Ein Beitrag von Udo Kelter vom 02.04.2023
- Die verglichenen Studien
- Facetten der Wissenschaftsfreiheit
- Einordnung und Bewertung der Studien
- Anmerkungen
- Quellen
In letzter Zeit wurden mehrere Studien publiziert, die sich mehr oder weniger direkt mit der empirischen Messung der Wissenschaftsfreiheit befassen und die zum Teil ein lebhaftes Presseecho nach sich zogen. Die Gesamtergebnisse der Studien, vor allem die Einschätzungen des aktuell herrschenden Grads an Wissenschaftsfreiheit, sind erstaunlich divergent, um nicht zu sagen diametral entgegengesetzt. Gleiches gilt für die mediale Rezeption der Studien. Die Ergebnisunterschiede sind zu groß, um als bloße Meßungenauigkeiten erklärbar zu sein. Sieht man etwas genauer in die Studien, fallen konzeptuell völlig verschiedene Merkmale auf, die untersucht werden, u.a. das Gefühl, sich zu bestimmten Themen frei äußern zu können, und die Verfügbarkeit von Reisemöglichkeiten für Forscher. Offenbar werden in den Studien verschiedene Phänomene gemessen
Ziel dieses Blogposts ist, die impliziten Definitionen von Wissenschaftsfreiheit in diesen Studien zu klären und zu vergleichen. Im Endeffekt stellt sich zum einen heraus, daß alle Studien „die Wissenschaftsfreiheit“ im Sinne eines abstrakten Ideals nur partiell, vergröbert und/oder indirekt vermessen. Wichtiger aber sind grundlegend verschiedene Ansichten, welche realen Phänomene für die Wissenschaftsfreiheit wie relevant sind. Die Unterschiedlichkeit der impliziten Definitionen von Wissenschaftsfreiheit ist nicht offensichtlich, die Aussagekraft der Studien wird deshalb in der öffentlichen Debatte z.T. falsch eingeschätzt, insb. deutlich überschätzt (ohne damit den Wert der Studien infrage stellen zu wollen; das Problem liegt in der falschen öffentlichen Rezeption der Studien, nicht bei den Studien selber).
I.f. werden zunächst die Studien kurz vorgestellt, danach wird ein Begriffsrahmen präsentiert, in den die gemessenen Phänomene eingeordnet werden können. Mit Hilfe dieses Begriffsrahmens können dann die Studien verglichen und die unterschiedlichen Ergebnisse und deren Aussagekraft erörtert werden.
Die verglichenen Studien
- Die European University Association (EUA) veröffentlichte Anfang März die 2022-Ausgabe ihres „University Autonomy Scorecard“ (Pruvot (2023), Upton (2023)). Diese Wertungsliste untersucht die „Autonomie von Hochschulen“ in 35 nationalen oder regionalen Hochschulsystemen in Europa, und zwar im einzelnen (a) die akademische, (b) die organisatorische, (c) die finanzielle und (d) die Stellenbesetzungs-Autonomie. Reduziert ist die Autonomie, wenn eine äußere Instanz, typischerweise die regionale oder staatliche Regierung, Entscheidungen vorgibt oder einengt. Erhoben werden die Daten durch Selbstauskunft der jeweiligen Institutionen anhand von vorgegebenen Kriterien.
- Der „Academic Freedom Index“ untersucht die „akademische Freiheit“ in 175 Ländern bzw. Regionen aktuell und rückwirkend bis 1900. Er wird jährlich aktualisiert, s. Kinzelbach (2023), Kinzelbach (2023a), Kinzelbach (2022), Kinzelbach (2021), Kinzelbach (2021a). Der AFI basiert auf fünf Einzelindikatoren: (a) Freiheit von Forschung und Lehre, (b) Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, (c) institutionelle Autonomie, (d) Campus-Integrität und (e) akademische bzw. kulturelle Ausdrucksfreiheit.
- Eine von der Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE) gesponserte und vom Social Science Research Services durchgeführte Umfrage (FIRE (2023), FIRE (2023a)) hat rund 1.500 Dozenten an US-Universitäten befragt, ob sie fürchten, wegen unerwünschter Äußerungen den Job zu verlieren oder anders beruflich geschädigt zu werden, und zwar infolge von Beschwerden von Studenten, Druck von Kollegen und Willkür der Hochschulverwaltungen. Abgefragt wurde auch, inwieweit dieser Druck die Wahl von Forschungsthemen beeinflußt.
- In ihrem Campus Expression Survey HXA (2023) befragt die Heterodox Academy’s seit 2019 jährlich eine für die USA repräsentative Stichprobe von Studenten (Stiksma (2021)). Abgefragt wird vor allem das „Meinungsklima“, also ob die Studenten es riskieren, sich zu politisch strittigen Themen (Religion, Rasse, sexuelle Orientierung etc.) im Unterricht oder generell an der Hochschule offen zu äußern. Gefragt wurde insb. auch nach Befürchtungen, von Professoren für strittige Meinungen abgestraft zu werden (Zhou (2022), Zhou (2022a)).
- Eine von Revers und Traunmüller durchgeführte Studie Revers (2020), die zur Zeit laut Traunmüller (2023) gerade in größerem Umfang mit vergleichbaren Ergebnissen repliziert wird, untersuchte das Meinungsklima unter den Studenten der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Abgefragt wurde insb., inwieweit man sich bei diversen ideologisch umstrittenen Themen an der freien Meinungsäußerung gehindert fühlt und sich ggf. selber zensiert und welche Beschränkungen für andere man für zumutbar bzw. notwendig hält, also wie tolerant man ist bzw. in welchem Ausmaß man „cancel culture“ wahrnimmt bzw. selber betreibt. Die Studie hatte ein größeres Presseecho und führte zu einer ausführlichen Diskussion über die Schwierigkeiten, Einschränkungen der Meinungs- bzw. Wissenschaftsfreiheit empirisch zu messen, s. Villa (2021).
Beim Vergleich dieser Studien fallen mehrere Unterschiede auf. Erstens ist die Größe der untersuchten Populationen sehr unterschiedlich, ganze Länder bzw. Bildungssysteme bei den beiden ersten Studien, nur ein Land und darin nur eine bestimmte Gruppe von Universitätsmitgliedern bei den anderen Studien. Zweitens unterscheiden sich die abgefragten Merkmale zwischen diesen beiden Gruppen erheblich.
Drittens fällt auf, daß die Freiheit von Forschung und Lehre, die übliche Kurzdefinition von Wissenschaftsfreiheit, beim Autonomy Scorecard und beim AFI nur ein Kriterium (a) neben mehreren anderen ist, die zumindest in den Ergebnisdarstellungen als gleichrangig dargestellt werden.
Facetten der Wissenschaftsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit vs. Meinungsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit werden in GG Art. 5 gemeinsam unter besonderen Schutz gestellt. Dies führt leicht zum falschen Eindruck, Wissenschaftsfreiheit sei nur ein Sonderfall der Meinungsfreiheit. Zu diesem Eindruck tragen aktuelle prominente Fälle von Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit bei, die zugleich die Meinungsfreiheit verletzen (s. z.B. Kelter (2022)).
Die Wissenschaftsfreiheit schützt aber nicht nur die Äußerung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, also die Lehrfreiheit, sondern auch die Gewinnung von Erkenntnissen durch wissenschaftliche Forschung, also die Forschungsfreiheit. Während also die Lehrfreiheit als Sonderfall der Meinungsfreiheit angesehen werden kann, gibt es für die Forschungsfreiheit gar kein Äquivalent in der Meinungsfreiheit. Meinungen müssen nicht durch eigene Forschungen begründet werden, sie werden häufig und völlig legitim durch Übernahme der Meinung von anderen Personen („Vordenker“), denen man vertraut, gebildet.
Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit sind konzeptuell verschieden, aber nicht unabhängig. Wo keine Meinungsfreiheit herrscht, herrscht wahrscheinlich auch keine Lehrfreiheit. Wo keine Wissenschafts- und/oder Lehrfreiheit herrscht, ist kein freier wissenschaftlicher Austausch möglich und der Sinn des Forschens infrage gestellt, also auch die Forschungsfreiheit mehr oder weniger stark beeinträchtigt.
Wissenschaftsfreiheit vs. akademische Freiheit
Der Begriff „akademische Freiheit“ wird oft als Synonym von Wissenschaftsfreiheit benutzt bzw. verstanden. Suggeriert wird hiermit, Forschung, die durch die Wissenschaftsfreiheit geschützt wird, fände nur in akademischen Institutionen statt, also in Hochschulen, Großforschungseinrichtungen und ähnlichen, typischerweise öffentlich finanzierten Institutionen. Diese einschränkende Sicht ist falsch, geschützt ist auch jeder Privatgelehrte, jeder Teilnehmer an „Jugend forscht“, jedes Ingenieurbüro, jeden Think Tank einer Partei und jede Forschungsabteilung eines Unternehmens. Entscheidend ist alleine das ernsthafte Bemühen, mit wissenschaftlichen Methoden Erkenntnisse zu gewinnen. Namentlich in den Konstruktionswissenschaften (Ingenieurwissenschaften, Informatik u.ä.), deren Forschungsgegenstand Konstruktionswissen ist, das ggf. durch Patente dokumentiert wird, findet ein sehr großer Teil der Forschung außerhalb akademischer Institutionen statt und ist privatwirtschaftlich durch Risikokapital finanziert(1).
Hochschulen als „Berufsschulen“
Öffentlich und privatwirtschaftlich finanzierte Forschung unterscheidet sich indes in zwei Punkten deutlich: erstens hinsichtlich der öffentlichen Sichtbarkeit und der Angreifbarkeit bzw. Gefährdungen der Forschungsfreiheit, zweitens hinsichtlich der Lehre: Hochschulen haben eine Doppelfunktion als Forschungsinstitution und, wie böse Zungen behaupten, als Berufsschule(2). Der Eindruck einer Berufsschule entsteht vor allem durch die detaillierte Reglementierung der Inhalte und Struktur von Studiengängen, die in den 2000er Jahren mit der Einführung des Bachelor-/Mastersystems flächendeckend eingeführt wurde und die in extrem umfangreichen Akkreditierungsunterlagen zu dokumentieren sind. Zusammen mit Kapazitätsverordnungen beeinflußt der Lehrbetrieb an Hochschulen ganz erheblich, zu welchen Themen noch wettbewerbsfähige Forschung möglich ist.
Wichtig an dieser Stelle ist, daß die grundständige Lehre nicht der Lehrfreiheit unterliegt, d.h. die jeweiligen Inhalte und Lernziele einzelner Module eines Studiengangs können nicht vom Dozenten frei bestimmt werden. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Gleichsetzung von Wissenschaftsfreiheit und akademischer Freiheit fragwürdig ist. Insb. erschwert dies die Unterscheidung, welche Einschränkungen der Lehre legal wegen der Ausbildungsfunktion bzw. die illegal wegen Verletzung der Lehrfreiheit (und damit zusammenhängend i.d.R. auch der Forschungsfreiheit) sind.
Auf Basis der vorstehenden Klärungen können wir hier schon festhalten, daß alle oben gelisteten Verfahren zur Messung der Wissenschaftsfreiheit, namentlich die beiden ersten, tatsächlich nur die akademische Freiheit messen und daß die Einschränkungen in Forschung und Lehre infolge der Ausbildungsfunktion praktisch nicht thematisiert werden.
Das Wissenschaftssystem
Die Wissenschaftsfreiheit ist zuvorderst, genauso wie alle anderen Freiheitsrechte, ein Abwehrrecht, das den Bürger vor staatlichen Eingriffen und Zwängen schützt. M.a.W. schützt es jeden, der wissenschaftlich forscht oder lehrt, als Individuum. Nun versteht man „die Wissenschaft“ heute als einen Prozeß, in dem eine ganze Population einschlägig qualifizierter Wissenschaftler Mosaiksteine zu umfangreichen Fragestellungen liefert und man sich gegenseitig kontrolliert und korrigiert. Man arbeitet sich also interaktiv an „die Wahrheit“ heran(3), erreicht also eine Qualität der Begründung von Erkenntnissen, die ein einzelner Forscher i.d.R. nicht erreichen kann (vgl. den Begriff „Schwarmintelligenz“). Unterstellt wird, daß in dem wissenschaftlichen Prozeß alleine die Qualität der Argumente auf Dauer entscheidet, welche Hypothesen allgemein als korrekt akzeptiert werden(4).
Die Wissenschaftsfreiheit, vor allem die Forschungsfreiheit, schützt daher grundsätzlich das ganze gesellschaftliche Teilsystem, das diesen Prozeß der Wahrheitsfindung realisiert. Gaerditz (2018) bezeichnet es als Wissenschaftssystem.
Der Begriff Wissenschaftssystem ist insofern hilfreich, als er die Bedeutung der freien Kooperation und Kommunikation zwischen Wissenschaftlern für den Erkenntnisprozeß betont. Kritisch an diesem Begriff ist, daß es eine Ermessensfrage ist, welche Strukturen und Mittel über relativ triviale Kommunikationsmittel (e-mail, Telefon etc.) hinaus notwendig und unverzichtbar sind oder es zumindest wahrscheinlich machen, daß dieser Prozeß (selbst wenn man ihn auf den akademischen Bereich einschränkt) erfolgreich verläuft. Selbst wenn alle technischen und organisatorischen Voraussetzungen für einen wissenschaftlichen Austausch erfüllt sind, ist keineswegs garantiert, daß dieser Prozeß erfolgreich im Sinne guter („korrekter“) Erkenntnisse ist.
Der Begriff „erfolgreich“ ist an dieser Stelle tückisch. Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht ist durch die Erwartung motiviert, damit eine aufgeklärte, rationale Demokratie zu ermöglichen. Die Rolle der Wissenschaft besteht darin, soweit wie möglich objektive Fakten(5) zu liefern, auf die politische Debatten aufbauen können. Dieses Ziel wird vielfach durch politische Akteure konterkariert, die ihre alternativen Fakten in der öffentlichen Meinung verankern wollen und erschreckenderweise zum Teil regelrechtes Flacherdlertum in großen Teilen der Medien und der politischen Öffentlichkeit verankern konnten. In solchen Fällen ist das ganze Konzept der Wissenschaftsfreiheit und damit auch deren Messung sinn- und gegenstandslos geworden.
Autonomie von Hochschulen
Wenn wir uns auf die akademische Wissenschaft beschränken, dann kann man die Abwesenheit von staatlichen Eingriffen in das Wissenschaftssystem auch als Autonomie von Hochschulen bezeichnen. Das „University Autonomy Scorecard“ bezieht sich explizit auf diesen Autonomiebegriff, der AFI untersucht ebenfalls überwiegend Indizien für diese Autonomie.
Auch in einer autonomen Hochschule gibt es Interessenkonflikte, namentlich bei der Verteilung vor Haushaltsmitteln, Planstellen und anderen Ressourcen. Mit der Forderung nach Autonomie ist die Annahme verbunden, daß innerhalb einer Hochschule demokratische Strukturen herrschen, also das akademische Personal einer Hochschule eine Demokratie im Kleinformat bildet, und in diesem Sinne legitime Entscheidungen getroffen werden(6). Dieses Ziel dürfte im großen und ganzen normalerweise erreicht werden, allerdings kommen willkürliche Entscheidungen durchaus vor. Beispiele, in denen die Wissenschaftsfreiheit betroffen ist, sind das Verbot von militärisch nutzbaren Forschungen (z.B. Waffentechnologien), das als „Zivilklausel“ in den Grundordnungen mancher Universitäten verankert ist, oder das Verbot von Kooperationen mit Universitäten in Staaten, die gerade Angriffskriege gegen ihre Nachbarn führen. Etwas subtiler können Vorschriften wirken, die die Verwendung z.B. von Personalmitteln einschränken. Die Autonomie einer Hochschule gegenüber dem Staat impliziert keineswegs, daß ein einzelner Lehrstuhl oder Fachbereich autonom gegenüber der Hochschulleitung ist.
Im Rahmen der Einführung des Bachelor-/Mastersystems wurde vielfach das Paradigma der unternehmerischen Hochschule gepriesen, die als „Marke“ in Konkurrenz zu anderen Hochschulen um talentierte Studenten und um Drittmittel steht. Gefördert wird das Paradigma der unternehmerischen Hochschule auch durch die Bedingungen großformatiger Forschungsförderung, z.B. die Sonderforschungsbereiche der DFG. Die hier zwangsläufig erforderliche zentralistische Planung von Forschung steht offensichtlich konzeptuell in diametralem Widerspruch zum Paradigma eines autonom entscheidenden Forschers.
Nichtstaatliche Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit
Wie schon erwähnt sind die Wissenschaftsfreiheit und auch sonst alle Freiheitsrechte Abwehrrechte, die den Bürger zuvorderst vor staatlicher Machtausübung schützen. Eine solche Machtausübung wäre mißbräuchlich. Es gibt aber auch andere Formen des Mißbrauchs von Macht, namentlich der Mißbrauch wirtschaftlicher und medialer Macht sowie direkte physische oder soziale Aggressionen gegen Forscher („cancel culture“ und diverse Formen von Einschüchterungen, die keine reine Sachkritik sind und teilweise am Rande der Strafbarkeit liegen). Ein Beispiel sind Einschränkungen von Verlagen, die zur Publikation eingereichte Papiere automatisch ablehnen, wenn nicht genügend Frauen oder Angehörige von Minderheiten unter den Autoren sind.
Beim Vorhandensein solcher Einflüsse ist die Freiheit von Forschung und/oder Lehre faktisch nicht vorhanden oder stark reduziert. Im Rahmen der Drittwirkung der Grundrechte ist es Aufgabe des Staats, Machtmißbrauch oder Gewalt, die zu Verletzungen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit führen, zu unterbinden. Dies ist indes nicht einfach. Ein zentrales Problem ist hier, daß Angriffe auf Wissenschaftler i.d.R. nicht innerhalb des oben postulierten Wissenschaftssystems mit den dort etablierten Debattenstandards stattfinden, sondern in der Öffentlichkeit, in der andere Spielregeln gelten und Entscheidungen viel weniger transparent sind. Je nach Fachgebiet sind derartige nichtstaatliche Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit weitaus wichtiger als eventuelle staatliche Bedrohungen.
Begriffe wie Hochschulautonomie erfassen diesen Problembereich überhaupt nicht und erfassen insofern nur einen Teil der Gesamtproblematik.
Juristische vs. psychische Freiheit
Das eigentliche und wichtigste Ziel der Wissenschaftsfreiheit besteht darin, daß Forscher frei in der Wahl ihrer Untersuchungsziele und -Methoden sind. Frei bedeutet hier, daß ein Forscher nicht durch negative äußere Einwirkungen in der Forschungstätigkeit behindert wird(7). Eine äußere Einwirkung kann i.a. nur dann negative Wirkungen entfalten, wenn ein Machtunterschied vorliegt, d.h. der betroffene Forscher kann sich nicht mit vertretbarem Aufwand wehren. Bei Gesetzen oder hochschulinternen Vorschriften, die die Forschung einschränken, ist die Machtasymmetrie gut erkennbar und die dafür verantwortliche Instanz leicht identifizierbar. Dies ermöglicht es ggf., gegen die Einschränkungen zu klagen.
In vielen Staaten ist heute die Wissenschaftsfreiheit dem Buchstaben der Gesetze nach gegeben, also scheinbar alles in Ordnung. Viele Forscher haben trotzdem den Eindruck, bestimmte Dinge, die sie eigentlich tun wollen, besser zu unterlassen, weil ihnen andernfalls persönliche Nachteile drohen(8). Die resultierende Selbstzensur ist genauso wirksam wie eine staatliche Zensur. Beispiele hierfür sind soziale Drücke, sich politisch korrekt oder ideologisch erwünscht zu verhalten (z.B. durch Ideologiebekenntnisse in Form von Gender-Deutsch), oder durch politisch unterstützte Pseudowissenschaften, die man zwangsläufig falsifiziert, womit man den Haß von Aktivisten auf sich lenkt. Derartige Bedrohungen gehen nicht von staatlichen Instanzen aus, sondern z.B. von anonymen Mobs in den sozialen Medien oder von aktivistischen Kollegen. Solche außergesetzlichen Bedrohungen führen im Endeffekt dazu, daß man nicht mehr frei forschen kann und sich selber zensiert.
So gesehen ist Wissenschaftsfreiheit eine psychische Disposition. Sie entsteht durch Verarbeitung äußerer Eindrücke und hat sehr reale Auswirkungen auf den Forschungsprozeß eines einzelnen Forschers, bei flächendeckenden Bedrohungen auch auf den Erfolg des ganzen Wissenschaftssystems. Diese innere Freiheit ist eigentlich am wichtigsten.
Einordnung und Bewertung der Studien
Die alles entscheidende innere, psychische Freiheit wird am direktesten und präzisesten von der FIRE-Studie erforscht. Gemessen wird der Effekt beliebiger inner- und außeruniversitärer Einflußfaktoren.
Der Campus Expression Survey der HXA und die Studie von Revers und Traunmüller haben die innere Freiheit von Studenten erforscht, nicht von Dozenten. Die Annahme ist aber plausibel, daß das Meinungsklima der Dozenten dem der Studenten ähnelt und daß man somit die Erkenntnisse der Studien tendenziell auf die Dozenten übertragen kann. Die externe Validität, also die Verallgemeinerung der Ergebnisse auf andere Länder (bei der HXA) bzw. andere Hochschulen und Fächer (bei Revers und Traunmüller) ist trotzdem bisher unklar und müßte durch Replikationsstudien verbessert werden.
Die beiden Länderstudien (Autonomy Scorecard und AFI) erfassen diese innere Freiheit von Forschern gar nicht direkt, sondern allenfalls sehr summarisch über den ersten Indikator. Dabei bleibt unklar, wie die Gutachter es schaffen sollen, die innere Befindlichkeit ganzer Forscherpopulationen korrekt zu beurteilen.
Beide Länderstudien zielen auch schon vom Namen her eher auf äußere Einflußfaktoren, die sich tendenziell negativ auf die innere Freiheit von Wissenschaftlern und den wissenschaftlichen Prozeß auswirken. Bei einigen dieser Einflußfaktoren ist unklar, wie sehr sie die effektive Forschungsleistung verschlechtern.
Wie in der obigen Diskussion gezeigt sind die akademische Freiheit und die Hochschulautonomie nur ein Teil eines ganzheitlich verstandenen Begriffs von Wissenschaftsfreiheit, allerdings unbestritten ein sehr wichtiger Teil. Insofern liefern beide Studien wichtige Erkenntnisse über die relative Gesamtsituation in verschiedenen Ländern. Beide Studien behandeln nichtakademische Forschung praktisch nicht, ebenso keine Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit durch hochschulinterne Akteure, bei nichtstaatlichen Akteuren ist unklar, inwieweit sie berücksichtigt werden.
Beide Länderstudien erfassen Einschätzungen der Hochschulautonomie bzw. der akademischen Freiheit in einem Land auf stark vergröbernden Skalen. Dies ist im Rahmen der Zweckbestimmung der Studien vertretbar und aus praktischen Gründen alternativlos. Letztlich werden so aber implizit Mediane (oder andere aggregierte Werte) über alle Hochschulen und alle Fächer hinweg gebildet. Nun sind in der Praxis die einzelnen Fächer sehr unterschiedlich von Angriffen auf deren Wissenschaftsfreiheit betroffen. Mediane oder ähnliche aggregierte Werte liefern keine Hinweise auf die konkreten Anlässe, die betroffenen Fächer und ggf. die Standorte und damit auch keine Hinweise, wie die Situation verbessert werden könnte. Daher ersetzen die Länderstudien keineswegs die detaillierteren Studien.
Prof. Dr. Udo Kelter
Anmerkungen
(1) Bei Spitzentechnologien wie z.B. Speicherchips oder neuen Medikamenten sind extrem hohe Forschungsinvestitionen im 9- bis 10-stelligen Bereich erforderlich, die die Finanzkraft öffentlicher Förderer übersteigen. Finanzierbar sind solche Forschungen nur noch über die wirtschaftliche Verwertung der Forschungsergebnisse.
(2) Für Großforschungseinrichtungen und andere öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen gilt dies nicht direkt. Allerdings kooperieren solche Einrichtungen häufig aus guten Gründen mit Hochschulen und beteiligen sich freiwillig in kleinerem Umfang an der Lehre.
(3) Vgl. hierzu den Popperschen Begriff „Verisimilitude“, der implizit unterstellt, daß der Stand des Wissens grundsätzlich immer verbesserbar, also nie ganz perfekt ist.
(4) Ob das zutrifft, ist eine separate Diskussion wert. Jedenfalls liegt hier ein ganz wesentlicher Unterschied zur Bildung der öffentlichen Meinung bzw. zur politischen Willensbildung: diese hängt von Mehrheiten ab, und die zugrundeliegenden Meinungen können eklatant falsch oder Glaubenssache sein.
(5) „Objektiv“ ist hier als frei von subjektiven oder ideologischen Einflüssen zu verstehen. Dies ist nicht mit „präzise“ oder „eindeutig“ zu verwechseln. Viele politisch interessierende wissenschaftliche Aussagen werden mit induktiver Statistik gewonnen, sind also immer mit Unsicherheit behaftet.
(6) Dazu passend fordert die UNESCO (UNESCO (2019)) als ein wesentliches Element der Wissenschaftsfreiheit „eine öffentliche Grundausstattung und -förderung in Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die keine Disziplinen diskriminiert“. Über die Forderung als solche dürfte allgemeiner Konsens bestehen. Man kann sie relativ leicht aus dem Bildungsauftrag des Staates ableiten. Unklar ist, ob und in welchem Sinn man sie aus der Wissenschaftsfreiheit ableiten kann und inwieweit die Erfüllung dieser Forderung in Messungen der Wissenschaftsfreiheit einfließen sollte. Reisefreiheit bedeutet nicht, umsonst Bus und Bahn benutzen zu dürfen. Informationsfreiheit bedeutet nicht, umsonst Zeitungen lesen zu dürfen und für das Lesen sogar bezahlt zu werden. Allgemeiner kann man aus Freiheitsrechten keinen individuellen Anspruch auf die Ressourcen ableiten, die man für das geschützte Verhalten benötigt, oder sogar eine Bezahlung für das geschützte Verhalten.
Unabhängig davon, aus welchem Grundrecht man die Forderung in der UNESCO-Definition ableitet, ist zusätzlich unklar, welchen Instanzen sie Rechte einräumt bzw. Pflichten auferlegt. Wenn wir eine dem Staat gegenüber autonome Hochschule unterstellen, dann entscheiden nur noch Rektorat und Senat und damit indirekt alle Hochschullehrer über die Mittelallokation, nicht der Staat bzw. die Gebietskörperschaft, die die Hochschule finanziert. Die obige Forderung widerspricht grundsätzlich der ebenfalls geforderten Autonomie von Hochschulen. Inhaber eines Rechts auf diskriminierungsfreie Zuteilung von Ressourcen wären die jeweiligen Gruppen der Dozenten einer Disziplin. Kollektive sind aber keine Individuen und haben grundsätzlich keine Menschenrechte.
(7) Fachliche Kritik ist natürlich keine äußere Einwirkung in diesem Sinne.
(8) Bei den hier involvierten Themen besteht dieser Eindruck typischerweise nicht nur in der Wissenschaft, sondern generell in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Meinungsfreiheit, s. Petersen (2021), Traunmüller (2023).
Quellen
- Just released: The 2022-2023 College Free Speech Rankings. FIRE, 07.09.2022.
- REPORT: Faculty members more likely to self-censor today than during McCarthy era. Pressemeldung, Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE), 28.02.2023.
- Nathan Honeycutt, Sean T. Stevens, Eric Kaufmann: The Academic Mind in 2022: What Faculty Think About Free Expression and Academic Freedom on Campus. Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE), 28.02.2023.
- Klaus Ferdinand Gärditz: Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftsrecht 51:1, p.5-44, 03.2018.
- Campus Expression Survey. Heterodox Academy, 25.03.2023.
- Udo Kelter: Öffentlich-rechtliche Hetze gegen die Wissenschaft. Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, 09.12.2022.
- Katrin Kinzelbach, Ilyas Saliba, Janika Spannagel, Robert Quinn: Free Universities: Putting the Academic Freedom Index Into Action. Global Public Policy Institute, 11.03.2021.
- Katrin Kinzelbach, Ilyas Saliba, Janika Spannagel, Robert Quinn: Free Universities. Putting the Academic Freedom Index Into Action. Global Public Policy Institute, 03.2021.
- Katrin Kinzelbach, Staffan I. Lindberg, Lars Pelke, Janika Spannagel: Academic Freedom Index 2022 Update. FAU Erlangen-Nürnberg and V-Dem Institute, DOI 10.25593/opus4-fau-18612, 02.03.2022.
- Katrin Kinzelbach: Academic Freedom Index: Freiheitlich handeln! ZEIT Nr. 10/2023, 01.03.2023.
- Katrin Kinzelbach, Staffan I. Lindberg, Lars Pelke, Janika Spannagel: Academic Freedom Index 2023 Update. FAU Erlangen-Nürnberg and V-Dem Institute, 01.03.2023.
- Die Mehrheit fühlt sich gegängelt. Eine Dokumentation des Beitrags von Dr. Thomas Peterson in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 136 vom 16. Juni 2021. IFD Allensbach, 16.06.2021.
- Enora Bennetot Pruvot, Thomas Estermann, Nino Popkhadze: University Autonomy in Europe IV. The Scorecard 2023. European University Association, 03.2023.
- Matthias Revers, Richard Traunmüller: Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) 72, S. 471-497, 11.08.2020.
- Sean Stevens: Analysis: Heterodox Academy’s 2020 Campus Expression Survey. FIRE, 10.03.2021.
- Melissa Stiksma: Understanding the Campus Expression Climate: Fall 2020. Heterodox Academy, 01.03.2021.
- Richard Traunmüller, Lukas Steinwandter (Interview): Sollte ich als konservativer Student meine Meinung sagen, Herr Professor? Corrigenda, 15.03.2023.
- Richard Traunmüller: Diese Konsequenzen fürchten die Deutschen, wenn sie ihre Meinung offen sagen. Welt, 31.03.2023.
- Wissenschaftsfreiheit. Deutsche UNESCO-Kommission, 19.07.2019.
- Ben Upton: University autonomy in Europe `eroded by political meddling‘. Times Higher Education, 08.03.2023.
- Paula-Irene Villa, Richard Traunmüller, Matthias Revers: Lässt sich „Cancel Culture“ empirisch belegen? Impulse für eine pluralistische Fachdebatte. APuZ 46/2021, S.26-33, 12.11.2021.
- S. Zhou, S.C. Zhou: Understanding the Campus Expression Climate. Three-Year Report: Fall 2019, 2020, and 2021. Heterodox Academy, 22.05.2022.
- S. Zhou, S.C. Zhou: Understanding the Campus Expression Climate: A research report from 2019, 2020, and 2021. Heterodox Academy, 31.05.2022.