Den folgenden Vortrag hat unser Mitglied Prof. Dr. Dieter Schönecker (Universität Siegen) am 5. Okt. 2023 am Mathias Corvinus Collegium (Budapest) gehalten.
Ich bin wohl eingeladen worden, weil ich mich als Gründungsmitglied des deutschen Netzwerks für Wissenschaftsfreiheit seit einigen Jahren für einen liberalen Begriff von Wissenschaftsfreiheit einsetze. Mein öffentlich wahrnehmbarer Einsatz für die Wissenschaftsfreiheit begann damit, dass ich im Wintersemester 2018–2019 an meiner Universität eine Vortragsreihe über Meinungsfreiheit organisiert habe, zu der ich unter anderem Thilo Sarrazin und Marc Jongen eingeladen habe, zwei Personen, die man vielleicht auch in Ungarn kennt. Mein damaliger Dekan wollte das verhindern, und sämtliche Gremien meiner Universität und fast alle Kollegen applaudierten. Der Vortrag fand statt, wenn auch unter Einsatz von einer Hundertschaft Polizisten und für den Preis, dass ich in manchen Kreisen als persona non grata gelte, eine Morddrohung erhielt und bis heute immer wieder als rechtsradikal, rassistisch usw. beschimpft werde, gerade auch als Mitglied des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Seitdem bin ich wahrlich nicht der einzige im deutschsprachigen Raum, dessen Wissenschaftsfreiheit – mal mehr, mal weniger erfolgreich – beschränkt werden sollte. Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit dokumentiert solche Fälle. Wer behauptet, dass es diese Fälle nicht oder nur in sehr kleiner Zahl gibt, lügt zum Zwecke des Machterhalts oder ist ahnungslos. Ob es eine Kultur des Cancelns an deutschen Universitäten gibt, ist damit aber nicht gesagt; das hängt offenkundig davon ab, was man unter einer solchen ,Kultur‘ versteht, und das wiederum ist ein notorisch unklarer Begriff. Ich befürchte, mit der nachwachsenden Generation werden die Zeiten für Freunde der Freiheit schwieriger, und auch wenn es jetzt schon schwierig ist, ist es maßlos übertrieben, von einer Meinungsdiktatur oder Ähnlichem zu sprechen. Das gilt übrigens in Deutschland auch für die Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum. Zwar ist es wahr, dass die Diffamierung liberaler und konservativer Kräfte als „rechts“ oder „rechtsradikal“ – oft wird hier nicht einmal mehr unterschieden – die politische Landschaft polarisiert, ja vergiftet; aber natürlich kann man sich entsprechend äußern, auch wenn es zunehmend Zensuren durch nichtstaatliche Akteure gibt. Auf eines muss ich allerdings hinweisen: Die Einseitigkeit der Darstellung politischer und gesellschaftlicher Themen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ZDF, ARD usw.) ist geradezu grotesk. Zwar wird das immer wieder bestritten; aber ich selbst möchte diesen Befund nicht länger diskutieren, so wenig wie ich darüber diskutieren möchte, ob der Kaiser denn nackt sei, da er es ja ist.
Also, es wird an deutschen Unis gecancelt. Wer cancelt? Nun, es ist nicht die Bundesregierung, und es sind auch nicht Landesregierungen. Allerdings canceln staatliche Akteure, also konkret: Universitätsleitungen. Der Siegener Fall ist dafür ein Beispiel, aber auch der Fall Marie-Luise Vollbrechts. Die Biologin wollte im Sommer 2022 an der Humboldt-Universität einen Vortrag mit der These halten, es gebe, biologisch gesehen, nur zwei Geschlechter; der Vortrag wurde von der Uni-Leitung gecancelt. Universitätsleitungen stehen aber auch in der Pflicht, Cancel-Versuche Dritter zu verhindern; auch daran lassen sie es aber mangeln. Wer also cancelt? Die Liste der Fälle, die das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fortlaufend publiziert, dokumentiert fast ausschließlich Fälle, bei denen die Cancel-Versuche von links ausgehen. Das ist kein Zufall, sondern liegt daran, dass zumindest an einigen Fakultäten oder Fächern und erst recht bei den studentischen Vertretern linke Positionen gegenwärtig vorherrschend sind. Aber machen wir uns nichts vor: Die Feinde der Freiheit sitzen nicht nur im linken Lager. Zwar sind es die Rechten, die sich lautstark über die Cancel Culture, politische Korrektheit, Meinungs- und Denkverbote aufregen und beschweren, und sie tun das ja auch zurecht. Aber ich zweifele keine Sekunde daran, dass viele rechte Akteure keine Bedenken hätten oder haben, die Freiheit linker Denker einzuschränken. So hat die AfD-Fraktion 2020 im deutschen Bundestag einen Antrag gestellt mit der Forderung, dass die Bundesregierung „jegliche finanzielle Förderung des Bundes, die der (Weiter-)Entwicklung der Gender-Forschung dient, raschestmöglich einzustellen“ habe. Und wenn ich mich nicht irre, hat Viktor Orbán 2018 einen Versuch gestartet, die Gender Studies an ungarischen Universitäten abzuschaffen. Ich halte das für einen inakzeptablen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Lassen Sie mich kurz begründen, warum.
Es gibt im Wesentlichen drei Argumente für einen liberalen Begriff von Wissenschaftsfreiheit:
Erstens ist die Freiheit der Wissenschaft ein Menschenrecht, das sich aus der Autonomie des Menschen ableiten lässt; Menschen können und wollen erkennen, und sie sind und müssen frei sein, es zu tun. Was dabei als Wissenschaft gilt, müssen die Wissenschaften und die Menschen, die sie betreiben, selbst entscheiden. Das ist ein schwieriger, oft hart umkämpfter Prozess. Das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit wurde erkämpft als Abwehrrecht gegen den Staat und staatliche Zensur. Nicht der Staat hat darüber zu entscheiden, was Wissenschaft ist und was nicht; sondern das muss denjenigen überlassen bleiben, die sie betreiben. Ich räume allerdings ein, dass es schwieriger wird, wenn es um staatliche Universitäten geht, und mit staatlichen Universitäten haben wir es ja sowohl in Deutschland wie auch in Ungarn ganz überwiegend zu tun. Solche Universitäten werden vor allem aus Steuern finanziert, und ich halte es für legitim, dass der Staat Einfluss darauf nimmt, wofür dieses Geld ausgegeben wird. So kann der Staat etwa entscheiden, mehr Geld in die KI-Forschung zu stecken und weniger Geld in die Gender-Forschung, und insofern ist der AfD-Antrag nicht völlig ohne Grundlage. Gleichwohl ist es ein Unterschied, ob man mehr oder weniger Geld in eine Wissenschaft steckt, oder ob man sie schlichtweg verhungern lässt oder gar verbietet. Wäre die AfD mit einer 2/3-Mehrheit an der Macht, würde sie vermutlich die Genderstudies in Deutschland ganz abschaffen; und das wäre ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit so wie es meines Erachtens ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit war, die Central European University aus Ungarn zu verbannen.
Zweitens ist die Wissenschaftsfreiheit wichtig, weil aus ihr das Wissen erwächst, das Staatsbürger in Demokratien brauchen, um sich fundierte Meinungen für politische Präferenzen und Entscheidungen bilden zu können. Wenn wir sehr grob zwischen normativen und deskriptiven Wissenschaften unterscheiden, so ist der Punkt, dass Staatsbürger verschiedene Möglichkeiten erkennen können müssen, auf welcher Grundlage sie in welche Richtung denken und entscheiden können. Ist Atomkraft, technisch gesehen, sicher? Gibt es einen menschengemachten Klimawandel, und wenn ja, wie sollen wir handeln? Gibt es Menschenrechte, und wenn ja, welche sind es? Und so weiter und so fort. Solche Fragen sind extrem komplex, und Antworten zu finden, ist nicht leicht. Oft fallen sie in den Wissenschaften unterschiedlich aus, und die Freiheit der Bürger besteht darin, am Ende selbst zu entscheiden, was sie für richtig halten. Diese Freiheit beinhaltet also eine Wahl; und dafür ist es unerlässlich, dass die verschiedenen Optionen, die es fast immer gibt, Raum haben, sich an den Universitäten zu entfalten. Es kommt hinzu, dass aus den höheren Bildungsinstitutionen diejenigen Eliten erwachsen, die später ein Land führen. Viktor Orbán hat das, so scheint mir, sehr gut verstanden; aber er hat vielleicht nicht verstanden, dass ein Land erstarrt, wenn seine führenden Kräfte nur in eine Richtung denken.
Das dritte und meines Erachtens stärkste Argument ist John Stuart Mills epistemologisches Argument im 2. Kapitel von On Liberty: Wir sind fallibel; wir können nie sicher sein, ob das, wovon wir überzeugt sind, wirklich der Fall ist. Die Geschichte menschlicher Ideen ist vor allem eine Geschichte von Irrtümern – und zugleich eine Geschichte angemaßter Unfehlbarkeit, die immer wieder dazu führte, andere Meinungen zu unterdrücken, bis hin zur Tötung derjenigen, die sie vertraten. Aber wenn wir eine Meinung unterdrücken, können wir nicht ausschließen, dass es die richtige Meinung ist, die wir unterdrücken. Meinungen oder komplexe Meinungssysteme können aber auch teilweise richtig sein, und es ist – unabhängig von der Rechtsverletzung, die damit einhergeht – unklug, uns nicht mit ihnen auseinanderzusetzen oder sie sogar zu unterdrücken; wir könnten schließlich etwas von ihnen lernen. Aber wir können in der Auseinandersetzung mit Meinungen selbst dann etwas lernen, wenn diese rundum falsch sind (wobei, wohlgemerkt, wir nie oder selten wissen, ob sie wirklich rundum falsch sind). Die Auseinandersetzung mit problematischen oder falschen Thesen – selbst wenn man wüsste, dass sie falsch sind – ist ein wichtiger Probierstein für die eigene Position, deren Implikationen, Lücken und Probleme man dann besser versteht. Streit und Zweifel sind wichtige Quellen des Fortschritts, und dabei können uns auch Meinungen voranbringen, die wir für falsch, ja vielleicht sogar für gefährlich halten. So meine ich zum Beispiel, dass neuere Varianten der Rassismusforschung und insbesondere der Begriff des kulturellen Rassismus in der Critical Race Theory problematisch sind und jedenfalls zum Teil zu grotesken Vorstellungen führen wie etwa der, es gäbe gar keine unterschiedlichen Hautfarben, sondern diese seien nur ein rassistisches Konstrukt. Das scheint mir grober Unfug zu sein; aber daraus folgt natürlich nicht, dass die CRT gar nichts Wichtiges zu sagen hätte. Rassismus ist eine Geißel der Menschheit, und wir sind gut beraten, uns darüber aufklären zu lassen, auch wenn diejenigen, die aufklären wollen, in anderen Punkten selbst Nachhilfebedarf haben – etwa in Sachen Meinungsfreiheit.
Das sind also drei Argumente für die Wissenschaftsfreiheit. Nun ist aber klar und unbestritten, dass es Grenzen der Wissenschaftsfreiheit gibt und zwar positivrechtliche, wissenschaftslogische und moralische Grenzen. So erwähnt Art. 5 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes die „Treue zur Verfassung“, und es gibt auch strafrechtliche Grenzen (Beleidigung, Volksverhetzung, Embryonenforschung); wissenschaftslogische Grenzen sind jene, die durch die Praxis der Wissenschaften selbst gesetzt werden (Astronomie ist eine Wissenschaft, Astrologie nicht) und zu denen man auch die akademische Tugendhaftigkeit und Regeln der good scientific practice rechnen kann; und schließlich gibt es, einen mehr oder weniger schwachen bzw. starken moralischen Realismus vorausgesetzt, moralische Grenzen, die nicht rechtlich kodifiziert sind oder jedenfalls nicht so, dass sie bestimmte Handlungen verbieten (z. B. Tierversuche).
Wir sollten Cancel Culture als den Versuch verstehen, die moralischen Grenzen enger zu ziehen. Denn wer meint, die Freiheit von Forschung und Lehre etwa durch de-platforming einschränken zu dürfen, beruft sich dabei typischerweise auf moralische Gründe. Es wird geltend gemacht, dass Menschen ihr Recht auf freie Forschung und Lehre verwirken, weil sie rassistisch seien oder auch antisemitisch, xenophob, islamophob und so weiter. Im Ankündigungstext für diese Veranstaltung war entsprechend von einem „Siegeszug der Moral über das Argument“ die Rede. Aber das scheint mir genauso irreführend zu sein wie der Vorwurf der Hypermoral. Denn erstens ist wohl kaum zu bestreiten, dass alle Handlungen, die wir mit gutem Gewissen vollziehen, entweder zumindest erlaubt oder im Sinne des deontologischen Sechsecks adiaphora sein müssen, also insofern indifferent. Zweitens ist der Raum des Politischen der Raum des Rechtlichen, und wenn man nicht einen rechtspositivistischen oder naturalistischen Begriff von Recht und Ethik vertritt, sondern einen natur- oder vernunftrechtlichen, dann können und müssen moralische Geltungsansprüche auch jenseits der Individualethik erhoben werden. Drittens sind die allermeisten der mit den Ismen und Phobien verbundenen Vorwürfe durchaus berechtigt, wenn man sie (diese Ismen und Phobien) denn angemessen definiert und im Einzelfall vernünftig unter sie subsumiert. Zwar ist wahr, dass man vorsichtig sein sollte mit moralischer Übernormierung. Dennoch ist das Problem nicht oder jedenfalls nicht per se eine grassierend inflationäre Moralisierung, die alle Lebensbereiche umfasse und die alles verbieten wolle, was nicht politisch korrekt sei; denn was politisch nicht korrekt ist, oder besser gesagt: moralisch nicht erlaubt ist, das ist es eben nicht, und das bildet auch zurecht moralische Grenzen der Wissenschaftsfreiheit (wenn auch nicht zwingend der Meinungsfreiheit, aber das steht auf einem anderen Blatt). Man kann es also oder sollte es vielleicht sogar als moralischen Fortschritt begreifen, dass mehr (und mehr) Bereiche als moralische Sphären erfasst werden. Denn wenn jemand tatsächlich rassistisch oder homophob ist, hat man einen sehr guten, nämlich einen moralischen Grund zur Kritik und gegebenenfalls auch zur legitimen Begrenzung. Die bloße Tatsache, dass wir heute mehr Handlungen für moralisch verwerflich oder auch erlaubt halten als früher, ist also nicht Resultat einer Hypermoral, sondern Ausdruck moralischen Fortschritts: Aristoteles hatte kein Problem mit der Sklaverei, wir (fast alle) schon; Kant hatte ein Problem mit Homosexualität, wir (oder jedenfalls viele von uns) nicht. Das kritikwürdige Phänomen ist also nicht eine inflationäre Moralisierung. Das Problem sind die – oft mit theoretisch-begrifflicher Ungenauigkeit verbundene – Voreiligkeit, der beanspruchte Infallibilismus und der Dogmatismus, die mit der Feststellung einhergehen, dieses oder jenes sei als dieser Ismus oder jene Phobie moralisch verwerflich.