Eine Rezension von Ruben Wickenhäuser
Seit Ende des zweiten Weltkriegs war Antisemitismus in Deutschland nie so populär wie dieser Tage. Ausgerechnet sich als links, progressiv und antirassistisch gebende Personen äußern sich lautstark. Aktuell führte eine Rede der Photographin Nan Goldin bei der Eröffnung einer Retrospektive zu ihrem Werk in der Neuen Nationalgalerie Berlin zu einem Eklat, bei dem die Gegenrede des Direktors Biesenbach von propalästinensischen Aktivisten niedergebrüllt wurde.1 Schlimmer noch: Die Verwüstung von Universitätsräumlichkeiten durch propalästinensische Aktivisten wird als »Meinungsfreiheit« kleingeredet.2 Selbst im Alltag leben Juden in Angst. Und dies mitten in Deutschland, nicht nur in Berlin, wo die Polizeipräsidentin Barbara Slowik Juden empfahl, bestimmte Gegenden Berlins zu meiden.3
Eine wesentliche Wurzel für das Schandmal der neuen antisemitische Begeisterung gerade auch an deutschen Universitäten sieht Ingo Elbe im Postkolonialismus. Dies analysiert er in seinem neuen Buch, Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung, erschienen in Berlin. Das Buch ist nicht minder als eine fundierte Abrechnung mit einer Denkrichtung, die, so lässt sich seine Schrift interpretieren, Antisemitismus nicht nur fördert, sondern auch moralisch zu legitimieren versucht.
Der Schwerpunkt liegt auf dem Vorwurf der Holocaustrelativierung und der postkolonialen Interpretation der »Anderen«
Nachdem Elbe auf 31 Seiten auf die Relativierung des Antisemitismus und seine Sonderstellung eingeht, die ihn vom Orientalismus und herkömmlichen Rassismus abhebt, geht er detailliert auf die Frage der Holocaustrelativierung ein: Das Aufzeigen von Tendenzen, den Holocaust als ein mehr oder weniger gewöhnliches, wenn auch bedauerliches Ereignis unter vielen in der Menschheitsgeschichte zu deuten. Mehr noch: Die Holocausterinnerung würde als Waffe gegen Juden eingesetzt, da sie durch ihre »Sonderstellung« im Vergleich zu anderen Völkern sozusagen Opferprivilegien genössen. Nach knapp 80 Seiten greift Elbe sodann die Dämonisierung Israels auf. Anschließend hinterfragt er grundsätzlich die Sichtweisen und Methoden der Postkolonialisten mit ihrem Blick auf »die Anderen«, ein Kapitel, dessen Umfang dem der Holocaustrelativierung entspricht. Solide 56 Seiten Literaturverzeichnis beschließen das Werk.
Ein tiefgründiges Überblickswerk, aber keine leichte Lektüre
Das Buch ist ein ernstzunehmendes Fachbuch. Auch wenn Ingo Elbe selber über sein Buch sagt, es hätte in vielen Bereichen des tieferen Eintauchens bedurft, legt er hier eine hochkompetente Bewertung des Themas vor – nicht zuletzt, weil er die Vertreter des Fachs selber über Zitate zu Wort kommen lässt uns sie anschließend widerlegt. Er räumt mit dem Gerücht »judenfreundlicher Rechtsextremer« auf, indem er die Identitäre Bewegung kritisiert. Die Wurzeln des postkolonialistischen Denkens durch Foucault und Arendt zeichnet er ebenso nach wie die Argumentationsmuster aktueller Akteure wie Mbembe. Er thematisiert auch die Problematik der »multidirektionalen Erinnerung« und ihres »volkspädagogischen Anspruchs« aus jüngster Zeit: So schreibt er über die widerwärtig-naive Relativierung von Alan Schechner, der in einer Fotomontage ein palästinensisches Kind, bedroht von IDF-Soldaten, einem Jungen im Warschauer Ghetto, bedroht der SS, gegenüberstellt, ihnen das Photo des jeweils anderen in die Hand montiert4 und damit undifferenziert eine gemeinsame Opferschaft impliziert. Elbe führt hierzu ein Zitat an, das von Vertretern einer »multidirektionalen Erinnerung« angebracht wird und den Umstand gut illustriert: »Missbrauchte Kinder [werden] oft selbst zu Missbrauchern.«5 Da verwundert es nicht, wenn Elbe als Beispiel muslimische Schüler anführen kann,die sich selber mit KZ-Opfern gleichsetzen. Abgerundet wird das Buch mit einem wortgewaltigen Schlusswort: Der Postkolonialismus habe aus dem Antirassismus eine Weltanschauung gemacht, die letzten Endes Antisemitismus legitimiert.
Anmerkungen zur akademischen Form des Textes
Elbe setzt Literaturverweise als geklammerte Autorennamen und Jahreszahlen in den Text, was die Lesbarkeit für ein breiteres Publikum zusätzlich erschwert – ein Umstand, dem dieser Zitationsstandard nicht Rechnung trägt. Auch Kürzel wie »Ders.«, »a.a.O.« oder »ebd.« sind Unsitten, deren sich auch Elbe nicht verschließt. Dies sind akademische Standards, aber sie sind weder praktisch, noch erleichtern sie das Erschließen eines Textes. Es gibt besser geeignete Wege, ein sauberen Nachweis zu führen. Zumindest für Geschichtswissenschaftler ist seine Zitierform etwas verwunderlich, wenn er die letzte Auflage als Jahreszahl nimmt – und das bei Werken von in jenem Jahr bereits verstorbenen Autoren. So verweist »Hilter (2018)«6 auf sein »Politisches Testament« von 1945, das 2018 online einsehbar eingestellt worden ist.
Dafür verzichtet Elbe auf ein Endnotenverzeichnis und setzt stattdessen auf Fußnoten. Dies hebt sich in dem hochkomplexen und in kleiner Schriftgröße gedruckten Text angenehm hervor. Sicherlich ist dies nicht mehr als die höchst subjektive Randbemerkung eines Geschichtswissenschaftlers, ein Detail, das der Qualität des Textes keinen Abbruch tut.
Zudem ist gerade die Zitierform in Elbes Buch in den meisten Fällen eine Stärke. Denn wo das Zitierkarussell unter Fachkollegen eine enorme Schwäche anderer Arbeiten nicht nur der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften ist, nämlich anstelle von Quellen Meinungen aus der Sekundärliteratur zu zitieren, wird dies in Elbes Buch zur Stärke. Elbe zitiert hier zumeist eben nicht die Meinung eines anderen, die seine eigene Ansicht stützt. Vielmehr zitiert er Dritte, um diese an ihren Aussagen zu packen und anzugreifen. Was in manchen akademischen Texten den Ruch eines kumpelhaften »Ringelpiez mit Anfassen« erhält, wird hier ins Gegenteil verkehrt: Nicht gegenseitige Bestätigung, sondern Kritik ist sein Ziel. Er entlarvt durch die Zitate von bildungsbürgerlicher Sprache, deren sich die Vertreter der Postkolonialismusforschung bedienen, den esoterischen Charakter vieler Aussagen. Damit macht er gewissermaßen »gefühlte Wahrheiten« erlebbar. Die verworrenen Thesen der Critical Whiteness untermauern diesen Eindruck, der bei Elbes Buch entsteht: Sie definieren sich Unstimmigkeiten so lange zurecht, bis sie ihrer Meinung zu entsprechen scheinen. In seiner Einleitung beschreibt er dies unter anderem als »Erkenntnisverhinderung durch Betreiben von Überkomplexität.«7 Umgangssprachlich würde man solche Leute auf Fränkisch wohl als »Dummwaafer« bezeichnen.
Seine Stärke ist zugleich seine Schwäche – notgedrungen
Die fachlich hohe Qualität des Buches ist zugleich zwangsläufig sein Manko. Denn für ein nichtakademisches Publikum ist das Buch zweifellos kaum erschließbar. Der eng gesetzte Satzspiegel verdeutlicht dies schon beim ersten Aufschlagen. Schon mehr Durchschüsse hätten diesem sicher gutgetan. Die detaillierten Auseinandersetzungen mit den Aussagen von Fachkollegen gewähren tiefere Einsichten in ihre Denkart, können aber jenseits eines Fachpublikums leicht zum Eindruck der Spiegelfechterei führen.
Wer bereits für die Weltanschauung des Postkolonialismus, wie Elbe sie nennt, Sympathien hegt, wird sich vermutlich nur selten dazu überwinden, Elbes Ausführungen wirklich zu lesen und zu verstehen. Gerade weil der Postkolonialismus, wie Elbe in seinem Schlusswort beklagt, »Erkenntnisse […] auf qualitativ andere Sachverhalte«8 ausdehnt, um seine Positionen scheinbar naheliegend zu begründen. Dies erinnert an die Genderdebatte, wo Studien falsch zitiert und ganz offensichtlich unzulässige Vergleiche gezogen werden, solange es nur der Untermauerung der eigenen Ansichten hilft.9 Von derlei ideologiegesteuerter Faktenfilterung zu erwarten, sie würde ein ihrer Sichtweise konträres, komplexes Werk wie das von Ingo Elbe geistig durchdringen, erscheint nahezu weltfremd.
Fazit
Elbes Buch bietet einen herausragenden Überblick über das Phänomen von Postkolonialismus und, mit diesem Bezug, der Relegitimierung von Antisemitismus. Bezeichnenderweise wurde Ingo Elbe unter dem Vorwurf eines Studentenparlaments von einem Vortrag ausgeladen, er sei »faschistisch« und »rassistisch«10 und musste in der Folge Vorträge unter Polizeischutz halten. Im Lichte der vorliegenden Publikation erscheint das leider geradezu als ein Gütesiegel.
Dieses Buch kann nicht nur als Startpunkt für Forschungsarbeiten zu einzelnen Facetten dienen. Sondern auch als Grundlage für das, was es in diesen Zeiten dringend benötigt: Fundierte, aber leicht lesbare, den Leser willkommenheißende Populär-Sachliteratur. Folgen wir Elbes Analyse, so haben die Postkolonialisten mit ihren populistischen Forderungen den Elfenbeinturm längst verlassen. Ihnen allgemeinverständlich und sachlich entgegenzutreten, ist die große Herausforderung der heutigen Zeit. Und die Zeit drängt.
Elbe, Ingo: Antisemitismus und postkoloniale Theorie: Der »progressive« Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung, Edition TIAMAT, Berlin 2024, ISBN 978-3893203147, 28€
Dr. phil. Ruben Wickenhäuser studierte Geschichte und physische Anthropologie und arbeitete zur Wissenschaftsgeschichte der Rassenkunde. Er ist freier Schriftsteller und widmet sich wieder verstärkt der wissenschaftlichen Arbeit zu seinem Ursprungsthema.
1 Tumult in Berlin – die US-Fotografin Nan Goldin wirft Israel Völkermord vor, DLF Nachrichten, 23.11.2024, 08:30, https://www.deutschlandfunk.de/tumult-in-berlin-die-us-fotografin-nan-goldin-wirft-israel-voelkermord-vor-104.html (23.11.2024)
2 Beispielsweise das »Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten« mit über 1000 Unterzeichnern, https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSfVy2D5Xy_DMiaMx2TsE7YediR6qifxoLDP1zIjKzEl9t1LWw/viewform (23.11.2024)
3 Berlins Polizeipräsidentin rät Juden zu Vorsicht in Teilen Berlins, WELT, 20.11.2024, https://www.welt.de/vermischtes/article254568892/Berlin-Polizeipraesidentin-raet-Juden-zu-Vorsicht-in-Teilen-Berlins.html (23.11.2024)
4 Rothberg, Michael: From Gaza to Warsaw: Mapping Multidirectional Memory, https://michaelrothberg.weebly.com/uploads/5/4/6/8/5468139/rothberg_from_gaza_to_warsaw.pdf (24.11.2024)
5 Elbe: Antisemitismus und postkoloniale Theorie, S. 131
6 Elbe: Antisemitismus, S. 74
7 Elbe: Antisemitismus, S. 20
8 Elbe: Antisemitismus, S. 345
9 Vgl. Meineke, Eckhard: Studien zum genderneutralen Maskulinum, Winter-Verlag, Heidelberg 2023.
10 http://www.stura.uni-freiburg.de/news/ingoelbevortrag/?searchterm=2024 (1.7.2024) Das Dokument ist inzwischen nur per Login erreichbar oder offline, der Text findet sich aber noch korrekt in Suchmaschinen wie DuckDuckGo (Screenshot vom 23.11.2024). Vgl. Elbe, Ingo: Statement-Ingo-Elbe-Freiburg-Juli-2024.pdf (unpubl., 29.7.2024) und Offener Brief des Netzwerks Jüdischer Hochschullerer in Deutschland, Österreich und der Schweiz: Vortrag Dr. Ingo Elbe, https://n-j-h.de/offener-brief-vortrag-dr-ingo-elbe/ (23.11.2024)