Debatten unerwünscht? Das Beispiel der Documenta 15

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Ein Beitrag von Brigitta Hauser-Schäublin

Die Documenta 15 ist vorbei. Der Sturm ist vorüber. Geblieben ist die Entrüstung. Als Indonesienspezialistin versuchte ich kurz nach dem ersten medialen Entrüstungssturm eine Diskussion anzustoßen und plädierte dafür, dass die indonesische Künstler-Aktivisten-Gruppe Taring Padi zu ihrem Banner Keadilan Rakyat – an der Documenta mit People’s Justice wiedergegeben, wobei der Titel eher mit „Gerechtigkeit fürs Volk“ übersetzt werden müsste – angehört werden sollte. Ich schrieb dazu einen Text, den ich nacheinander bei drei verschiedenen renommierten Zeitungen einreichte. Die Reaktionen der Redakteure waren heftig und mündeten alle in strikter Ablehnung. Einer schrieb, dass „die plumpen antisemitischen Klischées, die in dem Kunstwerk zur Darstellung kommen, nicht kulturrelativistisch verharmlost werden [sollten]. Antisemitismus ist keine Frage der kulturellen Herkunft.“ Und ein anderer Redakteur: Die Redaktion „hält JEDEN Kulturrelativismus […], das Abwiegeln und wohlwollende Verstehen-Wollen der unzweifelhaft antisemitischen Bilder aus einem anderen kulturellen Background heraus, für grob verfehlt.“ Gleichzeitig drohte er, künftig meinen Beiträgen nicht mehr wohlwollend gegenüberzustehen, wenn ich versuchen würde, den Text, trotz seiner Ablehnung, bei einem seiner Redaktionskollegen unterzubringen. (Auf so eine abwegige Idee hätte ich zuerst einmal kommen müssen…) In einer weiteren Zeitung hätte ich den Beitrag um zwei Drittel kürzen müssen; dann wäre er als Leserbrief publiziert worden. Übrig geblieben wäre ein plakatives Statement, das mir zweifellos den Vorwurf des Antisemitismus eingebracht hätte. Ich verzichtete darauf. Hier der Text:

„Documenta: nur eine Sichtweise ist erlaubt

Der Eklat anlässlich der Eröffnung der Documenta in Kassel entzündete sich an Darstellungen, die in Deutschland nur als antisemitisch und Ausdruck von Juden- und Israelhass gelesen werden können. Das Urteil war rasch gesprochen. Aber stimmt das Fazit, dass es – weltweit – nur eine Bedeutung und eine Leseart von Symbolen geben kann? So einfach war die Welt vielleicht einmal zu Kolonialzeiten, wo die Herrenländer vorgaben, wie „es“ zu sein hatte, weil nur ihre Meinung zählte. Genau das geschieht nun mit dem Werk des indonesische Künstlerkollektivs Taring Padi: Schluss, Aus, Fertig. Es scheint niemanden zu interessieren, dass diese Künstler ganz andere historische Erfahrungen gemacht haben und in einem ganz anderen kulturellen Umfeld mit eigener Weltsicht aufgewachsen sind. Das Recht, dass ihre Protestkunst – Kritik und Widerstand gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Korruption, Staatsgewalt und Militarismus und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – zuerst auf ihrem eigenen kulturellen Hintergrund verstanden werden muss, wurde ihnen abgesprochen. Angehört oder befragt wurden die Künstler nicht einmal dazu, wie sie denn zu Judenfeindlichkeit kämen, wo doch in Indonesien das ethnische Feindbild – mit entsprechender staatlicher Ausgrenzung und Verfolgung – Chinesen und nicht Juden waren? Oder ging es eher um Kritik am Staat Israel, seinem Umgang mit Palästinensern, dem Auslandgeheimdienst Mossad, der, wie eine Untersuchung des „Spiegel“ zeigte, sein eigenes „Schattenreich“ aufbaute, von dem aus Mordanschläge geplant und durchgeführt wurden? Ist es tabu, diese Untaten, sozusagen im kulturellen Vergleich, künstlerisch zu inszenieren, weil es auch für postkoloniale Aktivisten aus dem „globalen Süden“ keine israelischen Täter und keine Solidarität mit Palästinensern geben darf?

Der Vorwurf des blanken Antisemitismus deckt zugleich die Erwartungen auf, die Ausstellungsmacher und Ausstellungsmacherinnen heute in Deutschland an Künstlergruppen aus dem „globalen Süden“ haben: Im Zuge angeheizter kolonialer Entrüstung und dem Ruf nach postkolonialer Wiedergutmachung werden Künstler aus ehemaligen Kolonien als Joker gehandelt: Mit ihrem (Opfer?)Blick sollen sie mit ihren Kunstwerken und Installationen dem Publikum vorführen, was „der“ Kolonialismus in ihren Ländern angerichtet hat. Viele auf diesem Hintergrund auch von Museen eingeladene Künstler erfüllen diese Erwartungen. Nicht so das Künstlerkollektiv Taring Padi. Es arbeitet sich nicht an Kolonialismus und Rassismus ab; es bedient das postkoloniale Schuldbewusstsein Deutschlands nicht. Das ist wohl die Hauptenttäuschung der Documenta-Klientel.

Taring Padi ging aus einer Gruppe von Studierenden der Kunsthochschule in Yogyakarta (Jawa) hervor, die gegen den das Land mit eiserner Hand führenden („gelenkte Demokratie“) Präsidenten Suharto demonstrierten. Dem Suharto-Regime, 1998 gestürzt, ging 1965/66 ein Massenmord in ganz Indonesien voraus, der bis heute nur teilweise aufgeklärt ist. Taring Padi-Künstler sind Aktivisten und thematisieren seit ihrer Gründung die Knechtung und Ausbeutung des indonesischen Volkes unter der von gewaltbereiter Polizei und Militär flankierten Suharto Diktatur; diese wirkt nach, bis auf den heutigen Tag. Das mag „langweilig“ erscheinen („taz“), aber nur für deutsche Betrachter, die das Thema kaum interessiert und die vermutlich noch weniger von der Schreckensherrschaft Suhartos wissen als die indonesischen Aktivsten von der deutschen Gräuelgeschichte. Taring Padi versteht sich als Aufschrei des Volkes – der Bauern und Arbeiter – und kämpft auf allen Ebenen für dessen Rechte und für eine unvergiftete Umwelt. Ihr Kampfruf, den sie mit Malereien, verstanden als Volkskunst, die sich an Darstellungen von Schattenspielfiguren, javanischen Metaphern, javanisch-balinesischem Malstil und sozialistischem Realismus anlehnt, auf Transparenten und Installationen verkünden, lautet: „Nieder mit der Tyrannei“ oder „Der Hunger soll zum Hammer werden“. Vor indonesischen Tabus ist die Gruppe nie zurückgeschreckt.

Der Name Taring Padi ist nicht eine „dadaistische Verbindung von Silben, die mittels einer Zufallstechnik auf einem deutsch-französischen Wörterbuch kombiniert wurden“, wie eine deutsche Kunstzeitschrift (Friedrich+Kunst) fantasiert; er bedeutet auch nicht „Reis-Fangzähne“, wie es in der NZZ hieß. Das Logo – ein Reishalm mit reifen Ährchen und spitzen Grannen, eingekerkert und in Ketten gelegt, aber mit einem fünfzackigen roten Stern als Zeichen des Widerstandes – verweist darauf, was gemeint ist (http://www.taringpadi.com): Die Reispflanze (padi) – das Grundnahrungsmittel in Indonesien – mit seinen piksenden Grannen (taring) symbolisiert das Volk, das in der Lage ist, sich gegen Tyrannei zu wehren.

Die auf dem Transparent verwendeten stilistischen Mittel – Menschen mit Schweine-, Hunde- oder Rattenköpfen – wurden eurozentrisch bewertet, ganz so, als habe es George Orwells Roman „Animal Farm“ nie gegeben. Die Tier-/Menschvermischung ist in der sprachlichen und bildlichen Darstellung islamisch-javanischer (aber nicht pan-indonesischer) Traditionen verankert. Menschen mit Köpfen von (als unrein geltenden) Tieren wird dadurch Menschlichkeit abgesprochen. Das mögen Moralisten verurteilen, selbst wenn sie dabei vergessen, dass auch unter westlichen Karikaturisten ein unter „Meinungsfreiheit“ verkauftes eigenes stilistisches Repertoire der Verächtlich- und Lächerlichmachung von Menschen und sogar von Religionsgründern – Mohammed-Karikaturen zum Beispiel – existiert. So protestiert heute in Deutschland niemand etwa gegen die Trivialisierung von Buddha, dessen Abbilder, sozusagen als Ersatz für Gartenzwerge, als billige life-style-Deko in Badezimmern und Gärten verwendet werden.

Selbstverständlich sind ein Künstlerkollektiv und seine Werke, selbst wenn dieses aus dem vermeintlich „globalen“ Süden stammt, nicht über alle Zweifel oder Kritik erhaben. Es sind keine „Edlen Wilden“ mit dem einzig „wahren“ Blick auf die Vergangenheit, wie sie von postkolonialen europäischen Aktivisten gerne idealisiert werden. Die transkulturelle Verwendung von Symbolen ist ein heikles Thema und die antisemitische Leseart – als einzig gültige erklärt – war in Deutschland vorprogrammiert. Dass nicht einmal eine Diskussion darüber möglich ist, ist bedenklich.“

Zitierte Literatur

Friedrich+Kunst (2022), „Taring Padi“. Militanter Aktivismus und Anti-Kunst auf der Documenta fifteen. Kunst und Unterricht Nr. 461/462. Friedrich Verlag. https://www.friedrich-verlag.de/kunst/zeitgenoessische-kunst/taring-padi-11667
NZZ, Hansjörg Friedrich Müller, Kein Drittwelt-Rabatt mehr für Taring Padi: Der Antisemitismus-Skandal auf der Documenta war absehbar, nun ist das Horror-Wimmelbild weg, 22.06.2022. https://www.nzz.ch/feuilleton/der-antisemitismus-skandal-auf-der-documenta-war-absehbar-ld.1689842?reduced=true
Der Spiegel, Ronen Bergmann, Israelischer Geheimdienst Mossad. Der große Schatten, 31.03.2015, https://www.spiegel.de/spiegelgeschichte/israelischer-geheimdienst-mossad-mythos-und-skandale-a-1032340.html
taz, Künstlerkollektiv Taring Padi. Gruppe fühlt sich missverstanden 21.06.2022, https://taz.de/Kuenstlerkollektiv-Taring-Padi/!5859643/