Ein Beitrag von Prof. Dr. Christoph Gröpl und Prof. Dr. Christian F. Majer
„Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus‘. Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus‘.“ Es ist nicht sicher, ob dieses Zitat dem italienischen Schriftsteller Ignazio Silone (1900–1978) zugeschrieben werden darf. Dieser Streit braucht hier nicht vertieft und schon gar nicht entschieden zu werden. Denn selbst wenn das Zitat einen anderen Urheber hat, ist es auf beklemmende Weise wahr. Faschismus und Nationalsozialismus zeichnen sich – unter anderem – durch brutale Intoleranz aus; sie dulden keinen Widerspruch, schon gar keinen intellektuellen. Für den selbsterklärten Antifaschismus gilt offenbar nichts anderes.
Derzeit beobachten wir Bewegungen, die angeblich für Toleranz und Akzeptanz gegenüber Gruppen und Lebensentwürfen kämpfen, die sie als schützenswert (neudeutsch „vulnerabel“, wohl übernommen aus dem einschlägigen US-amerikanischen Politjargon) und förderungswürdig erachten. Dabei geben sie „Anti-Intoleranz“ und das Bekenntnis zur Diversität vor, legen ihrerseits indes eine unsägliche Intoleranz an den Tag – und werden ihren Gegnern dadurch auf bedrückende Weise ähnlich, auch in der Armut ihrer Argumente.
Ihre Methode ist die öffentliche Empörung, die individuelle Bloßstellung, insbesondere in den und mithilfe der sozialen Medien. Mit Vorliebe konzentrieren sie sich auf Einzelpersonen, die ihnen politisch „verhasst“, d.h. tatsächlich oder vermeintlich „rechts“ sind. Diese stellen sie an den medialen Marterpfahl, was den Effekt hat, dass Dritte davor zurückschrecken, den medial Gemarterten beizustehen, aus Furcht, sie kämen als nächste an die Reihe. Am Ende steht die (Un‑)Kultur der Auslöschung anderer („rechter“) Meinungen („Cancel Culture“). Ob es sich dabei tatsächlich um eine „Kultur“ handelt, ist ebenso nebensächlich wie der Streit um den Terminus „Cancel Culture“, da jedenfalls das Phänomen existiert.
Diese Bewegung nennt sich selbst „woke“ und wird oft dem linken Spektrum zugeordnet. Mit den klassischen Linken haben sie allerdings – vielleicht außer einer kollektivistischen Betrachtungsweise – wenig gemein. Anders als diese interessieren sie sich nicht für prekäre Lebensverhältnisse der Arbeiter gleich welcher Hautfarbe und Herkunft, sondern haben zu Schützlingen ausschließlich angeblich „marginalisierte“ Minderheiten erkoren, die sich durch Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexuelle Identität auszeichnen. Diesen wollen sie in angeblichem Kampf gegen diese „Marginalisierung“ und Unterdrückung weitgehende Privilegien zuweisen, in Abkehr von den Prinzipien der Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz und des Leistungsgedankens. Hintergrund ist wohl die Vorstellung, Positionen und Ressourcen in einem Staat würden grundsätzlich ausschließlich nach Gruppenzugehörigkeit verteilt, und die herrschende Gruppe beute den Staat unter Verdrängung der zu schützenden Gruppen aus. Vom Kampf gegen den Rassismus, den sie sich gerne auf die Fahnen schreiben, haben sie sich weit entfernt.
Neuerdings sind bei uns Verlage das Objekt der Empörung. Sie werden zum Teil erfolgreich dazu veranlasst, politisch nicht genehme Autoren oder Bücher aus der Öffentlichkeit zu verbannen („auszulöschen“). So jüngst geschehen mit den Winnetou-Büchern des Ravensburger-Verlags, nachdem „Indianer“ zum Tabuwort stilisiert wurde und dem Kinderbuch (!) die Verwendung kolonialer und rassistischer Stereotype vorgeworfen wurde. Dass Kinderbücher üblicherweise nicht historisch exakt sind und mit Stereotypen arbeiten, lässt man nicht als Einwand gelten, genauso wenig die Sympathie Karl Mays für die Indianer, deren Behandlung in den Vereinigten Staaten er als einer der ersten immer wieder kritisierte und deren positives Bild in Deutschland ihm durch die Erfindung des „Winnetou“ zu einem Großteil zu verdanken ist.
Nun soll der Verlag C.H.Beck dazu gebracht werden, Hans-Georg Maaßen als Autor aus seinen juristischen Werken zu verabschieden. Anlass dazu bilden verschiedene Äußerungen Maaßens zu den Themen Ukrainekrieg und Covid-19-Pandemie; nicht vergessen wurde auch seine Kritik an der Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel. Die Empörung zielt auf die Kommentierungen Maaßens in dem Grundgesetz-Kommentar von Epping/Hillgruber zum „Asylgrundrechtsartikel“ 16a.
Selbstverständlich steht es jedem Autor frei, die Zusammenarbeit mit einem Verlag zu beenden, wenn er Bedenken gegen dessen (vermeintliche) politische Ausrichtung hat. Ebenso steht auch einem (privaten) Verlag frei, seine Autoren nach Belieben auszuwählen. Für die Meinungsvielfalt ist es aber problematisch, wenn von außen auf einen Verlag Druck ausgeübt wird, der sich weniger durch Sach- als vielmehr durch Totschlagsargumente auszeichnet. Durch das Zurückweichen des Verlags C.H.Beck in der „Causa Zuck“ und die Umbenennungen einiger juristischer Standardwerke bestärkt, sehen Anhänger der „Cancel Culture“ in diesem Verlag offenbar ein geeignetes Opfer, um dessen bislang breites rechtswissenschaftliches Meinungsspektrum mithilfe weiterer Kampagnen einzuschränken. Das Ziel soll offensichtlich das Gegenteil von „Diversität“ im Sinne von Meinungsvielfalt sein.
Um nicht missverstanden zu werden: Mit unserer Zurückweisung der „Cancel Culture“ verbinden wir keine Zustimmung zu bestimmten politischen Aussagen Maaßens – darauf kommt es insoweit gar nicht an. Es geht uns hier ausschließlich um die abstrakte Eignung und Berechtigung eines Autors, am rechtswissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Und diese Frage ist losgelöst von der „Causa Maaßen“ zu beantworten: Wir sind der Überzeugung, dass ein Verlag die Zusammenarbeit mit einem Autor nicht deshalb beenden muss, weil dieser sich politisch fragwürdig geäußert hat. Wer insoweit anderer Ansicht ist, öffnet der Willkür Tür und Tor. Denn wer soll – jenseits von strafbaren und verfassungsfeindlichen Äußerungen – darüber entscheiden, welche Ansicht politisch nicht mehr akzeptabel ist und damit „gelöscht“ werden soll? In dieses Fadenkreuz politischer Missliebigkeit kann letztlich jeder geraten.
Demgegenüber wird häufig eingewandt, man dürfe „Rechten“ oder gar „Faschisten“ und „Rassisten“ keinen Raum für ihre Äußerungen gewähren. Indessen werden diese Begriffe jenseits ihres konsentierten Anwendungsbereichs seit einiger Zeit inflationär und unscharf verwendet. Ist jemand, der die Pandemie- oder Energiepolitik der Bundesregierung kritisiert, zwangsläufig „rechts“, nur weil Rechtsextreme das üblicherweise tun? Ist jemand Rassist, wenn er seine „Mohrenapotheke“ nicht umbenennen will, indem er darauf hinweist, dass ihr Name Bezug auf die „Mauren“ und deren im Mittelalter den Westeuropäern weit überlegene Medizin nimmt? Ist es schon rassistisch, wenn man dunkelhäutige Menschen nach ihrer Herkunft fragt? Ist jemand, der das Geschlecht nicht rein subjektiv definiert, ohne weiteres „transphob“, ja „gruppenbezogen menschenfeindlich“? Oder verfällt, wer die Muslimbruderschaft kritisiert, der „Islamophobie“? Hier wird die Notwendigkeit der Bekämpfung von (Rechts‑)Extremismus und Rassismus umfunktioniert zur Engführung öffentlicher Meinungsäußerungen, zur Ausschaltung politischer Diskussionen im demokratischen Rahmen.
Freilich gilt auch die Wissenschaftsfreiheit nicht unbegrenzt. Wissenschaftler haben die Strafgesetze zu beachten; volksverhetzende oder beleidigende Schriften aus ihrer Feder können verboten werden. Darüber entscheiden in einem Rechtsstaat allerdings die zuständigen Gerichte, nicht selbsternannte Tugendwächter in sozialen Medien. Die Bedenken gegen die Kommentierungen Maaßens ließen sich vielleicht noch nachvollziehen, wären diese Kommentierungen die einzige Erkenntnisquelle zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG. Aber davon kann nicht einmal ansatzweise die Rede sein. An Kommentaren zum Grundgesetz besteht, auch und gerade im Beck-Verlag, kein Mangel; wer die Ausführungen Maaßens meiden will, möge andere, ihm genehmere wissenschaftliche Quellen heranziehen. Es geht der Kampagne jedoch offensichtlich nicht darum, dass man sich anderweitig informieren möchte und dies auch kann – es geht darum, Dritten den Zugang zu den Auffassungen Maaßens zu versperren. Seine Ansichten sollen aus dem juristischen Diskurs verbannt werden. Auffällig an diesem Versuch der „Auslöschung“ ist, dass die inhaltliche Qualität der Kommentierungen kaum thematisiert wird. Ist eine Kommentierung unzutreffend oder einseitig, verdient sie Widerspruch; darin besteht das „Kerngeschäft“ der Rechtswissenschaft. Niemand ist gezwungen, den Ansichten Maaßens zu folgen. Wissenschaftler müssen damit leben, dass ihre Ansichten verworfen werden.
Jurastudenten lernen früh, dass es auf das Argument ankommt, nicht auf die Person, die es vorbringt. Dieser Konsens in der Rechtswissenschaft droht durch die „Cancel Culture“ aufgekündigt zu werden. Dem einzelnen Leser wird die Berechtigung abgesprochen, richtige von falschen Argumenten zu unterscheiden. Stattdessen soll es nur noch auf die – vermeintliche – „Haltung“, die „moralische Integrität“ oder gar auf Hautfarbe und Herkunft der Person ankommen. Dass damit jegliche Debattenkultur infrage gestellt wird, scheint manchen nicht bewusst zu werden.
Rund 90 Jahre ist es her, dass nationalsozialistische Wüteriche massenhaft Bücher „weltanschaulich“ anders denkender Autoren aus deutschen Bibliotheken ins Feuer warfen (1933). Nicht einmal zehn Jahre danach kam es zum Holocaust – Heinrich Heines Sorge verwirklichte sich auf schlimmste Weise: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ (1823). So weit sind wir – zum Glück – noch nicht. Im Zeitalter der Internets bedarf es allerdings keiner Flammen mehr, vielfach genügt die elektronische Vertilgung. Die Frage drängt sich daher auf, welche Art der Auslöschung missliebigen Autoren als Menschen widerführe, errängen die modernen Wüteriche der sozialmedialen Empörungs(un)kultur die politische Macht in Deutschland. Ihre Forderungen beschränken sich jedenfalls nicht auf die Verdrängung aus dem akademischen Diskurs, sie zielen vielmehr meist auf die Person ab, die ihre Stellung verlieren und nirgendwo mehr eine Position erhalten soll; die Beispiele aus dem angelsächsischen Raum sind zahlreich. Die hasserfüllten Tiraden ad hominem, die oft zu lesen sind, lassen Fatales befürchten.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Wenn die Intoleranz wiederkehrt, wird sie nicht sagen: „Ich bin die Intoleranz“. Nein, sie wird sagen: „Ich bin die Anti-Intoleranz.“
Prof. Dr. Christoph Gröpl
Prof. Dr. Christian F. Majer