Eine kritische Reflexion zu Forschung und Lehre heute

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Prof. Dr. Axel Borsdorf

Meine Generation hat Veränderungen erlebt, die sonst wohl keine vorige Generation verarbeiten musste. Das erste Auto meines Vaters war ein VW-Käfer mit 24 PS, der bald von einem Goliath-Zweitakter abgelöst wurde. Ich fahre heute einen VW mit 150 PS und Turbolader, aber auch die Zeit des Diesels – und möglicherweise aller Verbrennungsmotoren – scheint nach dem VW-Skandal um gefälschte Abgaswerte und der politisch gewollten Elektro-Mobilität dem Ende zuzugehen. 1959 bescherte uns mein Vater an Weihnachten mit einem Tonbandgerät, doch auch die Kassettenrekorder der 1970er Jahre sind heute verschwunden, gibt es doch ganz neue Verfahren der digitalen Tonaufzeichnung. Die alten Röhrenfernseher in schwarz-weiß und nur einem Programm wurden von Farbgeräten, dann von LCD- und LED-TVs abgelöst, die ihre vielen hundert Programme über terrestrische Sender, Satelliten oder Kabel empfangen. Aber auch darauf können viele verzichten, die sich ihr TV-Programm lieber auf dem PC, Laptop oder Tablet zusammenstellen.

Überhaupt der Computer. Ich kaufte meinen ersten 1985 während einer Gastprofessur in den USA und war damit der erste Geograph am Institut, der einen – wie es damals hieß – IBM-kompatiblen PC einsetzen konnte. Die größte, für dieses Gerät erhältliche Festplatte hatte eine Kapazität von 10 MB, ansonsten wurden Programme von einer 5 Zoll Diskette geladen und auf einer anderen die Ergebnisse gespeichert. Heute besteht meine Ausrüstung aus einem Desktop, einem DNS-Server mit 6 TB, einem Laptop, einem Tablet und zwei Smartphones, von denen ich weltweit auf meine im Server gespeicherten Daten zurückgreifen kann. Da ich alle Fortschritte der digitalen Technologie mitmachen konnte, kann ich heute noch tief in die Systeme eingreifen.

Die Reihe der technologischen Fortschritte ließe sich endlos fortsetzen. Ich will aber über den Wandel der Forschung und der Universitäten sprechen.

Zu Beginn meines Studiums in Göttingen und die Fortsetzung in Tübingen waren die Universitäten noch freie Räume des Lernens und Denkens, eine universitas literarum et scholarum. Wir hatten begei­sternde Lehrer, die die Lehre noch ernst nahmen, uns aber nur wenige „Pflicht-Scheine“ abver­langten. So konnten wir nach Herzenslust und eigenem Erkenntnisinteresse unseren Studienplan zu­sammenstellen, wobei wir jedoch dankbar für die profunden Überblicksvorlesungen waren. Ich besuchte nicht nur Lehrveranstaltungen meiner Fächer Geographie, Geologie, Germanistik, so­ndern belegte Vorlesungen in Rhetorik, Theologie, Vor- und Frühgeschichte und Mineralogie.

Viele von uns – so auch ich – arbeiteten als Hilfskräfte bei den Professoren und wurden so in ihre aktuellen Forschungen einbezogen. Aufregend waren immer die Besuche in der Instituts­bib­liothek, wo neben dem gesuchten Buch auch andere standen, die dann parallel gelesen wurden und durchaus Einblick in den wissenschaftlichen Diskurs gaben. Und wir hatten alle unsere eigene Studien­bibliothek, um zu Hause lernen zu können.

Das dicke Ende waren dann die Vorprüfungen und das Staatsexamen. Auf diese Prüfungen mit vierstündiger Klausur und 90minütiger mündlicher Prüfung, für die keine Spezialgebiete angegeben werden durften und die somit das gesamte Fachgebiet beinhalteten, bereiteten wir uns semesterlang in Lerngruppen vor.

Und wie ist das heute? Der sogenannte Bologna-Prozess brachte eine bis dato unvorstellbare Verschulung der Lehre. Studierende arbeiten einen überladenen Studienplan ab, der kaum Abweichungen erlaubt. Stattdessen gibt es eine „Workload“, die den Studierenden auferlegt, die Texte zu lesen, die der Lehrende für sie ausgewählt hat, und die dann auch praktischerweise gleich als pdf in den e-campus gestellt werden. Die Bibliothek wird dabei überflüssig, und vom wissenschaftlichen Diskurs hören die Studierenden allenfalls nur noch aus dem Munde des Lehren­den.

In den Teilprüfungen, die die alten Gesamtprüfungen des Fachgebiets abgelöst haben, wird dann nur noch abgefragt, was dem Lehrinhalt – oft also dem mainstream – entspricht.

Ich hörte einmal einen Studenten auf dem Flur zu einem Kommilitonen sagen: „Ich gehe zu Bors­dorf, Siedlungsgeographie aufsagen!“ Ein Prüfling gab als Antwort auf meine Fragen auswen­dig gelernte Passagen aus einem von mir verfassten Lehrbuch wieder, die aber gar nicht zur Frage passten!

Philipp Möller hat in seinem Buch „Isch geh Schulhof!“ einen Ausdruck geprägt, der zwar auf die Schule gemünzt ist, die Realität der universitären Lehre aber ebenso treffend beschreibt. Er nannte das Lernen auf eine Klausur, also das Hineinfressen von Stoff, mit dem anschließend sofortigen Vergessen, also dem „Auskotzen“ des Gelernten, „Bil­­dungsbulimie“. Treffender kann man es nicht ausdrücken!

Ich hatte einmal Gelegenheit, das Zimmer einer Studentin von innen zu sehen, da mein Sohn ein Zimmer untervermietete. Da stand einsam und allein ein einziges Buch, und das war kein Fachbuch! Da überrascht es kaum, dass in den Referaten nur noch Literatur zitiert wird, die über google-scholar und andere Suchmaschinen im Internet verfügbar ist. Auch deren Autoren bedienen sich offenbar des Internets, und so ist es nicht verwunderlich, dass längst bekannte Aussagen unserer alten Lehrer plötzlich als (scheinbar) neue Erkenntnisse ausgegeben werden! Vor allem amerikanische Autoren bedienen sich gern dieser Methode, um scheinbar neue Theorien zu formu­lieren.

Und damit bin ich bei der Forschung. Diese ist heute überwiegend drittmittelfinanziert, die Grundfinanzierung wurde stark heruntergefahren. Dies hat eine fatale Folge: Freie Forschung ist kaum noch möglich, die Drittmittel werden für vorformulierte Programme und Forschungs­fra­gen vergeben. Es ergibt sich ein enger Korridor, in dem geforscht werden soll und geforscht wird. Vorgeschaltet sind Begutachtungen durch ausgewiesene Wissenschaftler, die natür­lich zum Teil in Konkurrenz zu den Antragstellern stehen und zumeist dem mainstream folgen. Dies führt aber zu einer Verengung, um nicht zu sagen „Ideologisierung“ der Forschung, weil Anträge, von denen widersprüchliche Ergebnisse zu den Überzeugungen der Gutachter er­war­tet werden, kaum eine Chance auf Bewilligung haben. „Der lebendige Geist der Wissenschaft wird durch diese Entwicklungen erstickt“, meint dazu G. Morgenthaler (2024: 8).

Egner & Uhlenwinkel (2024) haben dokumentiert, dass viele Professoren und Professorinnen wegen „ideologischer Unbotmäßigkeit“ und anderen Gründen fristlos entlassen wurden. Dieser Prozess begann erst 2018. Zuvor betraf der „Rauswurf“ in wenigen Jahren jeweils einen Kollegen, ab dem genannten Zeitpunkt wurden es im Durchschnitt neun pro Jahr.

Hinzu kommt eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse des Nachwuchses mit Zeitvertragen, Begrenzung der Anstellungszeit in Angestellten-, Assistenten- und Juniorprofessorenverträgen, die natürlich abhängig machen. Viele vielversprechende junge Wissenschaftler haben wir auf diese Weise verloren.

Das Internet gestattet die Leistungsüberprüfung der Forschenden, eine Frage der Quali­täts­mes­sung, die sich schon Max Weber gestellt hat. So ist heute der Gradmesser für die „Bedeut­samkeit“ eines wissenschaftlichen Werkes das „Wer oder was wird wie oft zitiert?“ Eugene Garfield entwickelte schon 1961 den Science Citation Index, der 1992 von Thomson Reuters gekauft wurde. Eine tolle Geschäftsidee, denn David Thomson, M.A., gehörte bald mit mehr als 25 Mrd. US-Dollar zu den 20 reichsten Personen der Welt. Bibliometrische Verfahren bestimmen heute den Wert der Forschenden und spielen bei Berufungsverfahren eine große Rolle. Dabei können viele neue Erkenntnisse gar nicht in den – vorwiegend nordamerikanischen – ISI-indizierten Journalen publi­ziert werden, weil sie einen zu hohen Lokalbezug haben und in der Landessprache verfasst sind.

Die Auswahl der in das Web of Science aufgenommenen Journale ist keineswegs transparent und vielfach ideologisch geprägt (Klein & Chiang 2004). Viele hochrangige Zeitschriften sind bis heute nicht aufge­nommen worden. Weder Monographien noch Sammelwerke mit mehreren Autoren werden indiziert. Das Buch – früher die Krönung eines Wissenschaftler-Lebens – hat an Wert ver­lo­ren. Dies hat der Wissenschaftsrat Köln 2012 in seinem Empfehlungen zur vergleichenden Forschungsbewertung in den Geisteswissenschaften klar zum Ausdruck gebracht.

Um auf hohe Impaktpunkte und Hirschfaktoren zu kommen, hat sich die Unsitte einge­schlichen, Artikel mit zahlreichen Autoren zu veröffentlichen, die dann alle vom Impakt dieses Beitrags profitieren. Autorenlisten mit mehr als 30 oder gar 40 Autoren sind nicht selten. Werden sie in Science oder Nature publiziert, ist der folgenden Beitrag nicht wesentlich länger als die Liste der Auto­ren. Die Leistung einzelner Forscher ist somit nicht mehr erkennbar (Frazetto 2004, Pfeffer 2003, Verhagen et al. 1999). Eine weitere Folge ist die Bildung von Zitierkartellen von Freunden, die sich gegenseitig helfen, hohe Impaktfaktoren zu erreichen (Chen 2004). Oft erscheint in der Autorenliste der Institutsleiter (was natürlich seine Impaktpunkte erhöht), einen echten Beitrag hat er aber meist gar nicht geleistet. Mir ist es mehrfach passiert, dass im Begutachtungsverfahren referierter Journale der federführende Herausgeber oder ein Reviewer verlangt hat, selbst zitiert zu werden. Oft wurde gleich das passende Zitat beigefügt. Das ist wissenschaftlich unredlich!

Das System fördert die Eitelkeit. Ich hörte einmal ein Gespräch zweier Kollegen. Einer sagte: „Ich will der beste Professor des Instituts sein!“ Die lakonische Antwort war: „Und wir wollen das beste Institut sein!“ Aber auch diese entwaffnende Antwort bezog sich natürlich auf die Leistungszahlen und ist somit ebenfalls systemimmanent.

Wie schlecht bibliometrische Verfahren sind, wird auch daraus deutlich, dass Autoren mit gleichem Namen nicht unterschieden werden. Glück hat also, wer D. Klein oder A. Scott heißt (Klein & Chiang 2014)!

Für die Einreichung von Manuskripten bei „peer-reviewed journals“ gilt Ähn­liches wie für die Begutachtung von Drittmittelanträgen. Wer nicht dem mainstream folgt, hat kaum eine Chance, einen Beitrag publiziert zu bekommen. Auch dies fördert die Ideologisierung des Forschungs­betriebs und steht der Freiheit der Wissenschaft diametral entgegen (Kostner 2020). Diese lebt näm­lich von dem Disput unterschiedlicher Meinungen, Ergebnisse und Methoden, Kritik war daher der Wissenschaft bis vor wenigen Dekaden immanent.

Richter (2018) hat in mathematischer Exaktheit gezeigt, dass der h-Index („Hirschfaktor“) Autoren mit vielzitierten Artikeln benachteiligen kann. Dies hier auszuführen, ginge zu weit, kann aber nachgelesen werden. Szientometrische (= bibliometrische) Verfahren sind nicht so korrekt wie sie vorgeben zu sein.

Der Wettbewerb um Impaktpunkte erschwert die Existenz unabhängiger Wissenschaftsjournale. Heute zahlen die Zeitschriften ihren Autoren keine Honorare mehr wie früher, sondern verlan­gen im Gegenteil author fees, die vierstellige Summen ausmachen können.

Die großen Verlage kaufen weiter gut gehende Journale auf und wollen das florierende Geschäft mit author fees unter sich ausmachen. Dabei kommt ihnen entgegen, dass die, die neben den Autoren die eigentliche Arbeit machen, nämlich die Begutachter (peers), ihre Gutachten (reviews) gratis machen. Vorbei die Zeit, wo die Verlage noch selbst Lektoren bezahlen mussten!

Alle deutschsprachigen Universitäten haben inzwischen eine Forschungsleistungs-Datenbank, in der die Publikationen nach ihrem Impaktfaktor, aber auch die Drittmittel dokumentiert werden. Aus diesen Zahlen werden u.a. das Ranking der Universitätsinstitute und damit die Mittelvergabe berechnet. Drittmittel sind also das zweite Leistungskriterium. Die Akquisition von Drittmitteln erfolgt vielfach durch Forschungsförderungsorganisationen wie die EU, die die Hauptthemen, zu denen geforscht werden soll, vorgeben. Ich will mich nicht ausnehmen, war ich doch bei der Einwerbung von Drittmitteln sehr erfolgreich und habe viele EU-Projekte als lead-partner geleitet und an anderen teilgenommen. Aber: Im SPIEGEL vom April 2013 hat Klaus P. Hansen aus­geführt, wie durch dieses System die „Unis Genialität verhindern“.

Er führt dabei aus: „Für Denker sind Unis heute eine feindliche Umgebung. An einer modernen Hochschule ist es heute nahezu unmöglich, sich vertiefendes Wissen anzueignen. Aus Profes­soren werden Manager und Bürokraten. Gelehrtheit und Genialität sind so zum Aussterben verurteilt.

Eine Gattung stirbt. Es ist die Gattung der Gelehrten. Die Universitäten entziehen ihr den Lebensraum. Früher, vor Bologna und Exzellenzinitiative, waren fast alle Professoren Gelehrte. Heute sind sie in erster Linie Bürokraten, Manager, Internationalisten, Wettbewerber und Moderatoren, die um die Gunst des Publikums buhlen. Gelehrte zeichnen sich durch immenses Wissen aus. Sie überblicken ihr Fach in seiner Gänze, und auf diesem Fundament schaffen sie sich Bereiche herausragender Expertise. Dort kennen sie jedes Detail sowohl der Quellen als auch der Sekundärliteratur. Ihre Tätigkeit ist oft einsam und besteht im bloßen Lesen von Büchern und Aufsätzen. Von Lärm und Störung abgeschirmt, sitzen sie in Archiven, Bibliotheken oder in stickigen, mit Papieren jeder Form vollgestopften Studierstuben. Heute wird so etwas nicht mehr wertgeschätzt. Für Gelehrte wird die Uni zur feindlichen Umgebung.“

Hansen beklagt, dass Tiefe heute nicht mehr gefragt sei, ich möchte hinzufügen: auch die vertiefte Breite nicht. Er stellt auch fest, dass der Wettbewerb falsche Maßstäbe setzt und dem Forschenden kaum Zeit für das Eigentliche bleibt. Wie Recht er hat!

Ein weiterer Aspekt, der ursächlich für das Ende des Gelehrten ist, wurde noch nicht erwähnt: Es ist die Messung des Volumens der Drittmitteleinwerbung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft­ler müssen sich, um erfolgreich Forschungsmittel einzuwerben, an definierten Forschungspro­grammen beteiligen, was das eigene Erkenntnisstreben naturgemäß einschränkt. Oft müssen sie sich einer „Programmprosa“ mit vielen modischen Schlagworten bedienen, um die Bedingungen der Ausschreibung zu erfüllen. Damit wandeln sich Universitäten zu Wirtschaftsbetrieben, die Produkte liefern, die der „Markt“, also Politik und Wirtschaft, von ihnen verlangen. Wer diese Kriterien nicht erfüllt, also in Folge wenig Drittmittel einwirbt, verliert seinen Ruf und wird im schlimmsten Fall aussortiert. Ich will dennoch nicht verschweigen, dass die von mir geleiteten Institute sich angepasst haben und trotz allem sehr erfolgreich bei der Einwerbung von externen Forschungsmitteln waren, und demnach auch hohe Ränge im CHE-Ranking erreichten. Ich selbst wurde sogar 2010 als „Austrian Champion of European Research“ ausgezeichnet.

Eine Randbemerkung – vielleicht nicht zum Aussterben der Gelehrten, wohl aber zu deren schwin­dender Bedeutung – sei mir gestattet. Als ich in die Österreichische Akademie der Wissenschaften berufen wurde, war diese klar gegliedert: Die wirklichen Mitglieder bildeten die Gelehrten­gesell­schaft, die aufgrund der großen Lebens- und Forschungserfahrung die Akademie­institute und die von der Akademie geleistete Forschungsförderung kontrollierten. Die große Akademiereform – nachdrücklich von der Politik gefordert – brachte ein Ende dieses sinnvollen Systems. Die Gelehr­ten­gesellschaft darf noch untereinander diskutieren, einen Einfluss auf die Institute hat sie aber nicht mehr. Diese werden ausschließlich von einem mit großer Machtfülle ausgestatteten Präsidium kontrolliert, das sich der verschiedenen Controlling- und Qualitäts­sicherungs­einrich­tungen be­dient, in seinen Entscheidungen aber völlig frei ist.

Ich blicke also auf eine Zeit zurück, die die Universitäten und andere Forschungseinrichtungen vor große Herausforderungen gestellt hat. An mehrere neue Universitätsgesetze mussten wir uns anpassen, ebenso an das Bologna-System mit der Einführung neuer und der ständigen Modi­fika­tion bestehender Studiengänge, an Budgetprobleme, die „Überlast“ wegen steigender Studen­ten­zahlen, die Unterwerfung unter den Zwang der Drittmitteleinwerbung, die Verkleinerung der Fakultäten, die Ein­richtung von Forschungsschwer­punkten und Forschungszentren. Studienbei­träge kamen und gingen. Alles dies war von oben verordnet, die Autonomie der Universitäten und Forschungs­institutionen wurde völlig übergangen. Freiheit von Wissenschaft und Forschung – das ist heute zur Schimäre ge­worden.

Ich wurde 1991 an die Universität Innsbruck berufen. Unsere Fakultät war damals noch eine große (Naturwissenschaftliche Fakultät), und ich war dankbar für die zahlreichen Kontakte mit „Nachbar-)Wissenschaftlern, die mir gebo­ten wurden. Mein Institut, das für Geographie, war ein kleines, regional noch sehr auf Forschungen im Nahraum ausge­richtet und noch in der tradi­tionellen steilen Hierarchie geord­net. Mit meinem leider zu früh verstorbenen Kollegen Gerhard Abele machten wir uns daran, flachere Strukturen aufzubauen und den regionalen Horizont auf überseeische Räume zu weiten. Großzügige Berufungszusagen konnten für den Aufbau eines modernen GIS-Labors verwendet werden. Studentische Exkursionen führten nun nach Afrika, Nord- und Lateinamerika. Wir beteiligten uns an den Ausschreibungen der EU-Rahmen­pro­gramme, und unsere Anträge wurden oft bewilligt. Dies waren kleine Erfolge, die das Institut bald an die Spitze der Universitätsinstitute brachte, was Drittmittel und Publikationsrate betraf. Da unser Rektor die Gründung von Start-Ups in eigens gegründeten Technologiezentren förderte und wir mit drei Firmen, darunter ein größeres Kompetenzzentrum, dabei waren, hatten wir auch ausreichend Einsteigerarbeitsstellen für gute Absolventen, die überdies in einem Kurs auf Bewerbungsgespräche vorbereitet wurden.

Aber das muss auch erwähnt werden: Der interdisziplinäre Dialog, der die große Fakultät kenn­zeichnete, verengte sich in der viel kleineren Fakultät für Geo- und Atmo­sphären­wissenschaften, der unser Institut später angehörte. Spezialisierung ist das Motto, die Idee der universitas literarum et scholarum als allgemeine Bildungsstätte im Sinne der Gebrüder Humboldt blieb auf der Strecke.

Es bleibt ein schaler Beigeschmack, denn natürlich wurde die Leistung meines Instituts unter den bereits kritisierten Methoden der Qualitätsmessung bzw. Forschungsleistungsdokumentation ge­messen. Daher wurde auch die Promotionsordnung angepasst und erlaubt, ja fördert die Abfas­sung kumulativer Dissertationen, bei denen drei ISI-indizierte Journalartikel für die Promo­tion ausrei­chen. Das soll die Positionierung der Universität im Shanghai-Ranking oder dem CHE-Ranking ver­bes­­sern und dient der bibliometrischen Aufhübschung. Diese Verfahren vernach­lässi­gen die Fähig­keit zum langen Atem, die eine Doktorarbeit in Form eines Buches bislang verlangte.

Die „Leistungsmessung“ behindert bei den Lehrenden das Engagement in der Lehre, das Ge­schick zu begeistern, die Bereitschaft zu kooperieren, Ehrenämter zu übernehmen, das Fach zu vertreten und vernachlässigen die Berufung, ein Professor, also ein Lehrer und ein Bekenner, zu sein. Honi soit, qui mal y pense!

So bleibt meine Zusammenfassung kritisch. Immer noch werden die Universitäten von Finanz­problemen geplagt und noch immer gibt es Raumnöte und überfüllte Hörsäle. Der Gelehrte alter Schule ist Vergangenheit, die Jetztzeit ist von Leistungsdruck bei ISI-indizierten Publikationen und der immerwährenden Beantragung neuer Drittmittel geprägt. Die überbor­dende Verwaltungslast und Bürokratie sind weitere Übel. In der Forschung behindert die „Forschungs­lei­stungs­doku­mentation“ eher die Leistung, als sie zu befördern. In der Lehre wurden wir bereits vor der Einführung des Bologna-Systems von der zunehmenden Zahl von Studierenden und ständig wechselnden Studienplänen geplagt. Mit dessen Umsetzung hat sich die Lehre verschult, die Studierenden wissen z.T. gar nicht mehr, woran ihre Lehrer forschen. Vor allem aber lernen sie, ihr Kurzzeitgedächtnis zu trainieren, um die nötigen ECTS-Punkte (European Credit Transfer System) zu erhalten. Die Beherrschung des Gesamtstoffes eines Faches, früher im Endexamen verlangt, ist nicht mehr gefragt.

Das Modell der Freiheit von Forschung und Lehre scheint ausgedient zu haben, es herrscht das mainstreaming. Trotz der Überlast in der Lehre gibt es viel zu wenige Stellen für den wissenschaft­lichen Nachwuchs, der es angesichts der zeitlichen Befristung der Arbeitsverhältnisse zudem schwer hat, sich in der kurzen Zeit weiter zu qualifizieren.

Zum Abschluss füge ich nun noch ein Verzeichnis der zitierten Literatur bei. Dies mag als Wider­spruch zu meinen obigen Ausführungen gelten. Aber auch ich unterliege den Bedingungen des heutigen Wissenschaftsbetriebs, und da auch meine älteren Publikationen nicht im Internet ver­fügbar sind, bin ich natürlich dankbar, wenn auch ältere Veröffentlichungen nicht ganz im Verges­sen verschwinden.

 

Zitierte Literatur:

Chen, C. 2004: Searching for intellectual turning points: Progressive knowledge domain visualization. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 101: 5303-5310

Egner, H. & A. Uhlenwinkel 2024: Wer stört, muss weg! Die Entfernung kritischer Professoren aus Universitäten. Neu-Isenburg: Westend.

Frazetto, G. 2004: Who did what. Uneasiness with the current authorship system is prompting the scientific community to seek alternatives. EMBO-reports (European Molecular Biology Organization) 5, 5: 446-448

Klein, D.B. & E. Chiang 2004: The Social Science Citation Index: A Black Box – with an Ideological Bias? Econ Journal Watch 1, 1: 134-165

Kostner, S. 2020: Wenn Wissenschaftler einer Agenda verfolgen: Wie Macht und Moral an den Hochschulen die Erkenntnis ersetzen. Neue Zürcher Zeitung, 13.01.2020.

Möller, P. 2012: Isch geh Schulhof. Unerhörtes aus dem Alltag eines Grundschullehrers. Köln.

Morgenthaler, G. 2024: Vorwort. In: Egner, H. & A. Uhlenwinkel 2024: Wer stört, muss weg! Die Entfernung kritischer Professoren aus Universitäten. Neu-Isenburg: Westend: 7-10..

Pfeffer, W.T. 2003: QUAD system offers fair share to all authors. Nature 426: 602

Richter, M. 2018: Was misst der h-Index (nicht)? Kritische Überlegungen zu einer populären Kennzahl für Forschungsleistungen. WiST 12: doi.org/m428

Verhagen, J.V. et al. 1999: When extra authors get in on the act. Nature 398, 657: 1999

Weber, M. 1988: Gesammelte politische Schriften. 8. Auflage. Tübingen.

Wissenschaftsrat 21.06.2012: Empfehlungen zur vergleichenden Forschungsbewertung in den Geisteswissen­schaf­ten. Köln.