Haltung oder Diskurs?

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21. April 2024

Axel Bernd Kunze

Die Gesellschaft ändert sich gravierend, in einer Geschwindigkeit und Richtung, die noch vor einem Jahrzehnt unvorstellbar war. Grundfeste der bürgerlichen Ordnung werden infrage gestellt: Nicht nur punktuell, wie es im Laufe der Zeit immer wieder und teils mit erfrischender Wirkung geschah. Nunmehr kumulieren einzelne, ursprünglich separierte Anliegen zu einer Bewegung, die sich machtvoll in Szene setzt und zunehmend an Einfluss gewinnt. Sie strebt einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel an, ein neues kulturelles Selbstverständnis, das mit dem bisherigen an entscheidenden Stellen bricht“ (B. Ahrbeck: Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft, Springe a. D. 2022, S. 7).

Was der Berliner Erziehungswissenschaftler Bernd Ahrbeck hier als Zeitdiagnose formuliert, äußert sich sehr praktisch in einem moralischen Druck, der nicht zuletzt in wissenschaftlichen Berufen sehr deutlich spürbar werden kann: „Vorwürfe von Benachteiligung und Unmensch­­lichkeit, stehen allgegenwärtig im Raum, pauschale Anklagen, die sich dem Abgleich mit der Realität nur selten stellen“ (ebd., S. 12) Abweichende Positionen würden in einem solchen Diskursklima zunehmend moralisch stigmatisiert. Differenzen sollten nicht mehr im argumentativen Ringen ausgetragen werden. Sie würden vielfach mit Boykott, Bashing, Mobbing oder Gewalt von vornherein aus der Arena des öffentlichen Diskurses ausgeschlossen.

Streit zwischen Redaktionen, Verlagen und Autoren entzündet sich etwa immer wieder an gendersprachlichen Vorgaben; auch der Verfasser hat deswegen schon Beiträge zurückgezogen. Problematische Inhalte sollen durch Warnhinweise gekennzeichnet, frühere Bücher umgeschrieben, missliebige Zeitschriften aus Bibliotheken entfernt werden. Zu den jüngeren Beispielen zählt die Kontroverse um einen coronapolitisch kritischen Band, der in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen ist und der im Herbst 2023 auf Druck des Mehrheitseigners, des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik, aus dem Handel genommen werden musste; ein Offener Brief erhob Protest gegen die Maßnahme (vgl. Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH: Buch „Angst, Politik, Zivilcourage“ wird aus dem Handel genommen [Pressemitteilung], Frankfurt a. M., 8. November 2023; J. Dochhorn: Protest gegen Zensur in der Evangelischen Verlagsanstalt, in: Tichys Einblick, 11. Dezember 2023, Protest gegen Zensur in der Evangelischen Verlagsanstalt (tichyseinblick.de) [Zugriff: 21.04.2024]. Ein Beitrag für das neue Jahrbuch Wissenschaftsfreiheit des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit konnte am Beispiel pädagogischer Disziplinen aufzeigen, dass infolge des verengten Diskursraumes bestimmte Themen in wissenschaftlichen Zeitschriften nicht mehr zu Wort kommen und kontroverse Themenfelder nur noch einseitig bearbeitet werden (vgl. B. Ahrbeck; M. Felder; A. B. Kunze; T. Reichardt: Worüber wird in der Pädagogik publiziert? Welche Themen bleiben ausgespart? Eine Auswertung von vier Fachzeitschriften, in: Jahrbuch Wissenschaftsfreiheit 1 [2024], S. 11 – 36).

Kulturethische Aspekte

Wo der freie, plurale, ergebnisoffene, streitbare wissenschaftliche Diskurs unterbunden werden soll, sind zentrale Grundrechte wie die Meinungs-, Informations-, Wissenschaftsfreiheit oder das Zensurverbot in Gefahr, aber auch Vitalität, Produktivität und Stabilität unseres Gemeinwesens.

Der moderne Staat kann „seinen Zweck nur durch eine Befreiung seiner Bürger zu selbsttätigen Menschen erreichen“ (D. Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim u. a. ³2003, S. 59). Größere Wirksamkeit und eine höhere Produktivität wird der Staat gerade dann erlangen, wenn die Einzelnen in der Lage sind, mannigfaltig miteinander zu handeln und zu kommunizieren, wenn das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte nicht unterbunden und wenn die Freiheit der Bürger nicht vom Staat absorbiert wird.

Wilhelm von Humboldt hat dieses Grundprinzip moderner Staatlichkeit in seiner Ideenschrift „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ von 1792 (in: W. v. Humboldt: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Darmstadt 2002, S. 56 – 233) auf eine Weise entfaltet, die bis heute nicht übertroffen wurde: Zwar bleibt der Staat auf die Resultate bürgerlichen Schaffens und gesellschaftlicher Tüchtigkeit angewiesen; nur so kann er sich, beispielsweise über Steuern und Abgaben, jene Mittel aneignen, die er für die Erfüllung seiner Regierungsaufgaben benötigt. Dieses abstrakte Allgemeininteresse des Staates kann aber nicht das schöpferische, spontane und produktive Wechselspiel zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen ersetzen.

Der Mensch darf nicht dem Bürger geopfert werden. Denn überall dort, wo es darum geht, sittliche oder geistige Zwecke zu setzen, kann nur die Tätigkeit der Menschen selbst in diesem Sinne produktiv genannt werden. Allerdings wäre auch ein in keiner Weise vergemeinschafteter Wille eine Fiktion. Sollen zwei Extreme, ein bevormundender Tugend- und Versorgungsstaat auf der einen, aber auch ein auf Notfunktionen reduzierter Nachtwächterstaat auf der anderen Seite, abgewehrt werden, bedarf es eines vermittelnden Bindegliedes zwischen der Tätigkeit des Staates und der Tätigkeit der Einzelsubjekte: Es bedarf einer Öffentlichkeit, in der über die verschiedenen menschlichen Teilpraxen von Politik, Wirtschaft, Pädagogik, Wissenschaft oder Kultur hinweg um eine gerechte und gute Ordnung des gemeinschaftlichen Ganzen – angesichts stets begrenzter staatlicher und gesellschaftlicher Ressourcen – gerungen wird. Die Coronazeit hat gezeigt, dass ein solcher Diskurs keinesfalls zwingend gelingt (vgl. hierzu O. Dik; J. Dochhorn; A. B. Kunze: Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise, Regensburg 2023).

Eine solche Öffentlichkeit kann der Kulturstaat nicht erzeugen, er kann nur die Rahmenbedingungen hierfür förderlich gestalten. Die für ein freiheitliches, plurales, lebendiges und produktives Gemeinwesen notwendige Differenz zum einen zwischen Staat und Gesellschaft, zum anderen zwischen Staat und Individuum kann auf verschiedene Weise angetastet werden. Am auffälligsten sind Eingriffe durch staatlichen Zwang. Politisch beliebter und zugleich, schwerer zu dechiffrieren, sind Versuche des Staates, auf den Willen seiner Bürger Einfluss zu gewinnen – mit dem Ziel, die Bürger glauben zu machen, sie wollten aus eigenem Antrieb immer schon das, was der Staat von ihnen verlangt. Auf diese Weise würde sich der Staat aber die Zustimmung seiner Bürger auf unredliche und illiberale Weise erschleichen. Ein Staat, der vermittelt über die Gesinnung, die Denkungsart und den Charakter seiner Bürger zu regieren versucht, befördert gerade nicht die Freiheit, sondern verkehrt diese in ihr Gegenteil. Das Phänomen der „politischen Korrektheit“, das auf gesellschaftliche Uniformierung hinausläuft, ist ein bekanntes Beispiel.

Wissenschafts- und publikationsethische Aspekte

An aktuellen Kontroversen, die um Wissenschafts- oder Publikations­­freiheit geführt werden, fällt auf, dass die verschiedenen Lager oftmals ähnliche Werte betonen, aber auf zwei unterschiedlichen Ebenen argumentieren: die eine Seite formal grund- und freiheitsrechtlich, die andere politisch-inhaltlich. Sehr deutlich wurde dies an der Auseinandersetzung um den Boykottaufruf der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik gegen die traditionsreiche sozialethische Fachzeitschrift „Die Neue Ordnung“ von 2019, welche innerhalb der Tagespost zu einem Offenen Brief von rund sechzig Publizisten und Wissenschaftlern (Substanzieller Dialog statt Stigmatisierung und Ausgrenzung.Ein offener Brief zur Erklärung, in: Die Tagespost v. 13. Juni 2019, S. 27) und einer entsprechenden Replik von vier Vertretern der Fachgesellschaft geführt hat (B. Emunds; M. Heimbach-Steins; G. Kruip; C. Mandry: Für substanziellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs. In der „Tagespost“ vom 13.6. nahmen zahlreiche Autoren „Die Neue Ordnung“ von Pater Ockenfels gegen Rechtspopulismus-Vorwürfe in Schutz. Jetzt antworten seine Kritiker, in: Die Tagespost v. 4. Juli 2019, S. 27). Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit e. V. führt den Vorgang in der Dokumentation auf seinen Internetseiten als einen Fall deutscher „Cancel Culture“ auf.

Beide Seiten mahnen – in den Überschriften in der Tagespost nahezu gleichlautend – einen substantiellen Dialog an. Und beide Seiten mahnen einen plural geführten Diskurs an. Die Differenz zwischen beiden Diskurslagern entzündet sich auf der Normebene, wie ein solcher Diskurs gesichert werden soll:

Die Arbeitsgemeinschaft betont, dass sie keineswegs die Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit beschneiden wollte, sondern sich allein begrenzt zum wissenschaftlichen Charakter einer Zeitschrift äußere, den sie nicht mehr als gegeben betrachte; die Stellungnahme sei ein Akt der Qualitätswahrung und Ausdruck politischer wie verfassungsrechtlicher Verantwortung. Die Kritiker wiederum betonen, dass um eines pluralen Diskurses und einer freiheitlichen Debattenkultur willen auch sehr gegensätzliche und kontroverse Meinungen öffentlich zu Wort kommen müssten – begründungspflichtig sei gerade derjenige, der andere Stimmen aus dem Diskurs ausschließen wolle, was nicht aufgrund bloßer Behauptungen oder um erwünschter Haltungen willen geschehen dürfe. Was Geltung beanspruchen könne oder nicht, müsse gerade im offenen Diskurs geklärt werden, nicht durch politische Verdikte, andernfalls fielen die Vorwürfe der Ausgrenzung und Skandalisierung auf die Urheber des Boykottaufrufes zurück.

Ähnliche Konfliktkonstellationen finden sich allenthalben in der aktuellen wissenschaftlich-publizistischen Landschaft. Auf der einen Seite steht ein Selbstverständnis, das sich einer bestimmten politischen Agenda verpflichtet sieht und Haltung zeigen will – und sich dem Vorwurf gegenübersieht, den öffentlichen Diskurs zu vermachten, zu moralisieren und zu emotionalisieren. Auf der anderen Seite steht ein Selbstverständnis, das sich keineswegs als wertneutral begreift, wohl aber die divergenten Positionen im unvoreingenommenen Diskurs zu klären sucht und sich darauf beruft, zunächst einmal die gegensätzlichen Positionen vor dem jeweiligen Selbstverständnis der anderen wahrzunehmen. Diese Position wiederum sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, auf diese Weise werde „[u]nter dem Vorzeichen der Verteidigung formaler Freiheiten […] verschleiert, über welche gravierenden inhaltlichen Punkte eine Auseinandersetzung geführt werden muss“ (Emunds u. a. 2019, S. 27).

Bibliotheksethische Aspekte

Wissenschaftler wollen gelesen und rezipiert werden. Eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Medien und der Literaturversorgung erfüllen Bibliotheken. Für die Informationsfreiheit spielt es eine zentrale Rolle, wie diese ihren Sammlungs- und Dokumentationsaufgaben gerecht werden. Und dies gilt nicht allein tagesaktuell. Mit der Frage, was Bibliotheken auswählen und aufbewahren oder eben auch nicht, tragen sie eine weitergehende historisch-soziale Verantwortung.

Doch waren Bibliotheken auch in früheren Zeiten keineswegs vollständig neutral, was schon aufgrund begrenzter Ressourcen ein unrealistisches Ideal wäre. Immer wieder müssen bei den notwendigen bibliothekarischen (Auswahl-)Ent­scheidungen individualethische Wertentscheidungen und berufs­ethische Verantwortlichkeiten gegenüber der Gemeinschaft abgewogen werden (vgl. R. D. Lankes, R. David: Müssen Bibliotheken neutral sein? Ein Kommentar zur Frage der Neutralität von Bibliotheken, in: BuB. Forum Bibliothek und Information 71 [2019], S. 650 – 652). Dies ist keineswegs neu, doch wird über die bibliothekarische Neutralität in der jüngeren informations- und bibliotheksethischen Debatte zunehmend leidenschaftlicher und kontroverser diskutiert (nicht selten im Blick auf sog. „rechtspopulistische“ Literatur). Wie weit reicht die Neutralität, ohne Verrat an eigenen Wertvorstellungen zu üben? Wie kann im Fall einer Konfliktsituation verhältnismäßig, gerecht und klug entschieden werden? Welche Einschränkungen sind verantwortbar, ohne dass die eigene berufsethische Integrität leidet? Welche Zumutungen müssen im Namen der Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehalten werden?

Notwendige Selektions- und Sekretierungsentscheidungen sollten in Bibliotheken anhand transpa­renter, öffentlich zugänglicher und über­­prüfbarer Kriterien getroffen werden, damit nicht der Eindruck bibliothekarischer Zensur entsteht (vgl. H. Rönsch: Informationsethik und Bibliotheksethik. Grundlagen und Praxis, Berlin u. a. 2021, S. 360 f.). Erschwert wird dieser Anspruch durch eine seit rund zehn Jahren verstärkt zu beobachtende Zusammenführung von Ressourcen in den bibliothekarischen Prozessen der Literaturauswahl, Literaturbeschaffung, des Erwerbs und des Aufbaus von Sammlungen.

In diesem Prozess haben sich die Lehrstühle vor Ort ein wachsendes Mitspracherecht gesichert; ferner sind Fachinformationsdiensten oftmals Beiräte an die Seite gestellt worden. Sozialethisch alles andere als irrelevant ist ein strukturelles Problem, das mit diesen Entwicklungen verbunden ist: Die Bibliothekspolitik der Lehrstühle und der Fachreferate bilden immer weniger ein Gegenüber, das als ausgleichendes System von „checks and balances“ wirken kann. Aktuelle fakultäts- oder diszi­­plinpolitische Strömungen, Richtungen, Trends oder Moden können einen überproportionalen Einfluss erhalten, wenn sie nicht mehr durch eine gewisse, bibliotheks­wissenschaftlich wie bibliotheksethisch bestimmte Autonomie der Universitäts­bibliotheken abgemildert werden. Das System wird marktgängiger, längerfristige Strategien im Bestandsaufbau, in der Erwerbungspolitik und im Aufbau von Sammel­­schwerpunkten werden hingegen erschwert.

Virulent werden interessengeleitete Entscheidungen in der Regel nicht, wo ein allgemeiner Konsens über die Relevanz eines Periodikums besteht, sondern erst dort, wo es um profilierte Titel geht – gleich, in welche Richtung. Doch können gerade diese wichtig sein für den Vergleich divergenter Positionen innerhalb einer Disziplin oder eines Themen­­bereiches. Die Verflechtung von Entscheidungsprozessen und Ressourcen erschwert es, beabsichtigte Einflussnahmen Dritter unter Verweis auf biblio­thekarische Grundwerte zurückzuweisen.

Deutschland ist im Feld der bibliothekarischen Berufsethik eher ein Nachzügler. Mittlerweile finden sich aber Informations-, Meinungs- und Zensurfreiheit an prominenter Stelle sowohl in internationalen als auch nationalen Ethikkodizes, etwa dem IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers der International Federation of Library Associations and Institutions (in: ebd., S. 498 – 502) oder in den Ethischen Grundsätzen von Bibliothek & Information Deutschland (BID) – Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e. V. (in: ebd., S. 491 – 494).

Ersterer ruft Bibliothekare dazu auf, sich für ausgewogene Sammlungen und faire Richtlinien ihrer Dienste einzusetzen. Zwischen persönlichen Neigungen und professionellen Abwägungen müsse deutlich getrennt werden: „Librarians and other information workers distinguish between their personal convictions and professional duties. They do not advance private interests or personal beliefs at the expense of neutrality” (ebd., S. 502). Die Berufsethik des BID betont: „Wir setzen uns für die freie Meinungsbildung, für Pluralität und für den freien Fluss von Informationen ein, da der ungehinderte Zugang zu Informationen essentiell ist für demokratische Gesellschaften. Eine Zensur von Inhalten lehnen wir ab“ (ebd., S. 492). Eine solche Zensurfreiheit korrespondiert mit der menschen- und grundrechtlich geschützten Meinungs- und Infor­­mationsfreiheit nach Art. 19 Allgemeine Erklärung der Menschen­­rechte 1948 oder Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz.

Debatten über gesellschaftlich kontroverse Themen können nur unter den Bedingungen einer informierten Öffentlichkeit und einer fairen, transparenten Gesprächskultur ausgetragen werden. Diskursvermachtung, verhärtete Fronten, Polarisierung und gegenseitige Sprachlosigkeit sind andernfalls die Folgen. In einer fair und transparent geführten Debatte „muss das gesamte Meinungsspektrum vertreten sein“ (H. Rönsch: „Freiheit aushalten!“. Über die durch Meinungs- und Infor­­mationsfreiheit hervor­gerufenen Zumutungen, in: BuB. Forum Bibliothek und Information 71 [2019], H. 16, S. 344 – 347). Gerade Bibliotheken, die sich dieser Aufgabe stellen, eröffnen den Rezipienten erst die Chance, möglicherweise „fragwürdige Inhalte zu kontextualisieren und ideologische Verzerrungen selbst zu dekonstruieren“ (ebd.). Dies sollte für wissenschaftliche Bibliotheken, denen Aufträge zur umfassenden Sammlung, Dokumentation und Langzeitarchivierung eigen sind, in besonderer Weise mehr gelten.

Es gibt allerdings auch Gegenstrategien, wie mit bibliothekarischen Mitteln so etwas wie Schadensbegrenzung betrieben werden kann. Zunächst geht es darum, eigenen Einfluss auf bibliothekarische Erwerbungs- und Katalogisierungsentscheidungen, etwa als Bibliotheksbeauftragter, wahrzunehmen. Nur wer sich einbringt, kann etwas bewegen. Bibliothekspolitische Fragen sollten im Rahmen der Freiheitssicherung nicht unterschätzt werden. Dann besteht die Möglichkeit dafür zu sorgen, dass Einzelaufsätze in anderen Bibliotheksverbünden katalogisiert werden, abgebrochene Dokumentationen in Konkurrenzdatenbanken fortgesetzt werden, oder dafür zu sorgen, dass Druckexemplare, sofern diese noch gehalten werden, im Lesesaal in physischer Form ausgelegt werden. Und nicht zuletzt: Die erweiterten digitalen Möglichkeiten lassen es zu, soweit keine Urheberrechte verletzt werden, Beiträge auf eigenen Weblogs oder in anderen Formaten selbst zu verbreiten.

Ausblick

Wer sich wissenschaftlich äußert, begibt sich in die Öffentlichkeit. Und macht sich dann auch angreifbar. Umso mehr sind Wissenschaftler auf die Solidarität berufsständischer Vertretungen sowie gegenseitiger Soli­­daritäts- und Unterstützungsnetzwerke angewiesen. Die wissen­­schaftliche Freiheit ist heute nicht allein durch staatliche Eingriffe bedroht, sondern nicht minder durch zivilgesellschaftlichen Druck, die Macht gesell­­schaft­­licher Kollektive oder identitätspolitische Diskurskontrolle. „Vorwürfe von Benachteiligung und Unmenschlichkeit stehen allgegenwärtig im Raum, pauschale Anklagen, die sich dem Abgleich mit der Realität nur selten stellen.“ (Ahrbeck 2022, S. 12) – so noch einmal der eingangs schon zitierte Bernd Ahrbeck. Abweichende Positionen werden in einem solchen Diskurs- und Forschungsklima zunehmend moralisch stigmatisiert. Differenzen sollen nicht mehr im argumentativen Ringen und im publizistischen Streit ausgetragen werden, sondern von vornherein aus der Diskursarena ausgeschlossen werden. Der Anspruch von Toleranz und Offenheit verkehrt sich auf diese Weise in sein Gegenteil. Feigheit und Anbiederung können dann schnell reifende Früchte einer solchen Entwicklung sein.

Als katholischem Theologen sei es mir erlaubt, mit einem Blick auf die Pastoralkonstitution des II. Vatikanums „Gaudium et spes“ (GS) zu schließen. Für diese gehören politische und gesellschaftliche Fragen zu den irdischen Wirklichkeiten, die unter Beachtung der ihnen „eigenen Gesetze und Werte“ (GS 36) zu klären sind. Urteile in zeitlichen Dingen, die auf eine der Vernunft und ihrem Sollen angemessene Weise gefällt werden, sollten dem Kriterium der Verbindlichkeit genügen, können aber keinen Anspruch auf Endgültigkeit oder Absolutheit erheben. Sie gelten immer nur bis zum Erweis des Gegenteils. Das Konzil bekräftigte die Lehre von der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten. Und für diese gilt: In „vorletzten Fragen“ können Wissenschaftler bei gleicher Gewissen­­haftigkeit durchaus zu unterschiedlichen Antworten gelangen. Auch in einem wissenschaftsethisch orientierten Netzwerk wird nicht mit Harmonie, sondern gegen­sätzlichen Standpunkten zu rechnen sein. Anderes annehmen zu wollen, würde der Pluralität eines freiheitlichen Kultur- und Verfassungsstaates widersprechen. Eines aber sollte in den Kontroversen, mit denen zu rechnen bleibt, in jedem Fall gelten: Die Vertreter der kontroversen Lager sollten „in einem offenen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu helfen suchen; dabei sollen sie die gegenseitige Liebe bewahren und vor allem auf das Gemeinwohl bedacht sein“ (GS 43).