Am 29. Dezember 2021 ist Manfred Baldus, Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Universität Erfurt, im Alter von nur 58 Jahren gestorben. Er war im Herbst 2021 schwer erkrankt, sein Tod kam trotzdem für Familie, Freunde und Kollegen überraschend. Aus seinen letzten schriftlichen Äußerungen war erkennbar, dass er unter der Last seiner vielen, ihn übermäßig fordernden Aufgaben zusammengebrochen war, aber er hatte die Hoffnung, sich zu erholen.
Manfred Baldus war ein unerhört kluger, engagierter und verantwortungsbewusster Kollege. Er befasste sich schon früh mit Grundfragen der Rechtswissenschaft, bald aber auch mit praktisch bedeutsamen rechtsdogmatischen Gegenständen. Das Thema seiner Dissertation von 1994 war „Die Einheit der Rechtsordnung – Bedeutung einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts“ (Universität Frankfurt am Main). Die Habilitationsschrift (2000) behandelte das „Transnationale Polizeirecht – Verfassungsrechtliche Grundlagen und einfach-gesetzliche Ausgestaltung polizeilicher Eingriffsbefugnisse in grenzüberschreitenden Sachverhalten“ (ebenfalls Frankfurt am Main). Die beiden Schriften zeigen schon die Spannbreite seiner Forschungen; sein Leben lang arbeitete er sowohl an zentralen theoretischen Fragen wie an der Interpretation und Anwendung des positiven Rechts in der Praxis. Zeitweise kooperierte er mit Polizeipraktikern. Über das Verhältnis von Praktikabilität und Rechtsbindung und über den Respekt vor der Bedeutung und Wichtigkeit der polizeilichen Aufgabenerfüllung hat er sich kurz, aber treffend im Vorwort des „Transnationalen Polizeirechts“ geäußert. Die Deutsche Hochschule der Polizei hätte ihn im Jahre 2008 gern als Professor angeworben. Er hatte sich aber nach verschiedenen Stationen als Wissenschaftlicher Assistent und Lehrstuhlvertreter bereits im Jahre 2003 für die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Erfurt entschieden und blieb ihr treu.
In Erfurt schrieb er nicht nur zahlreiche Bücher und Aufsätze, sondern war auch seinen Studenten ein guter Lehrer; mehrfach wurde er dafür ausgezeichnet – von der Universitätsgesellschaft Erfurt, dem Studierendenrat der Universität und von der Studierendenschaft der Staatswissenschaftlichen Fakultät. Bald wurde auch die Thüringer Politik auf ihn aufmerksam: Er wurde zum Leiter der Expertenkommission zur Evaluierung der Thüringer Polizeistrukturreform (2015-2016) und zum Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs berufen (2008, Verlängerung 2012 und 2018 mit großer Mehrheit). Als Verfassungsrichter stand er für strikte Rechtsstaatlichkeit und setzte sich dabei manchen Kontroversen aus; zuletzt wandte er sich in einer politisch stark umstrittenen Frage in einem Dissenting Vote gegen die Mehrheit seiner Richterkollegen.
Sein bedeutendstes Vermächtnis ist wohl das Suhrkamp-Taschenbuch „Kämpfe um die Menschenwürde“ von 2016. Die verfassungsrechtlichen und -politischen Debatten um Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes seit 1949 sind hier in seltener Klarheit und Konsequenz aufgearbeitet – Resultat des Denkens weit über die juristisch-dogmatischen Zusammenhänge hinaus, geprägt durch überlegenes Verständnis philosophischer und historischer Hintergründe. Eine Fortsetzung sollten diese Studien in einer international vergleichenden Geschichte der Grundrechte finden; daran arbeitete er schon intensiv.
Dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit trat Manfred Baldus sogleich in der Gründungsphase bei. Er wollte noch viel für die Wissenschaft tun.
Hans Peter Bull