von Prof. Dr. Dieter Schönecker, Universität Siegen
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist Angriffe gewohnt. In jüngster Zeit aber wird verstärkt versucht, das Netzwerk in die rechtsextreme Ecke zu stellen. Überall ist nur noch Potsdam.
Vor kurzem hat die Stuttgarter Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn, die auch Vertrauensdozentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist, vom „Narrativ“ akademischer Cancel Culture gesprochen, das vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (NW) „bespielt“ werde https://www.jmwiarda.de/2024/02/01/bekenntnisse-sind-gut-taten-sind-besser/. Sie reiht dabei das NW in diejenigen Kräfte ein, die die Wissenschaft und Demokratie „akut gefährden“, da sie auf die „Aushöhlung“ unserer Verfassung abzielten; unverblümt rechnet sie das NW zu den antidemokratischen Kräften, wie sie sich angeblich beim nun berühmten Potsdamer Treffen gezeigt hätten und gegen die sich die Institutionen der Wissenschaft aktiv wenden müssten. In einer Email fragte ich sie freundlich, wie sie denn die Fälle bewerte, die das NW dokumentiert, und ob etwa der Fall der Biologin Marie-Luise Vollbrecht keine Cancel Culture sei (Vollbrecht wurde gecancelt, weil sie in einem Vortrag die These vertreten wollte, es gebe biologisch gesehen nur zwei Geschlechter). Ich fragte Eichhorn auch, ob sie irgendwelche Belege für ihre Behauptungen über die angeblich verfassungsfeindlichen Aktivitäten des Netzwerks habe. Die Antwort war wie fast immer bei dem Versuch, ins Gespräch zu kommen – nichts, keine Reaktion.
Ich bin es als Mitglied des NW gewohnt, in die rechtsradikale oder gar rechtsextreme Ecke gestellt und Opfer übelster Verleumdungen zu werden. Nun ist es aber eine Sache, wenn unbedeutende Figuren solche Angriffe vortragen und eine ganz andere, wenn führende Persönlichkeiten aus dem Wissenschaftsbetrieb und vor allem solche, deren Aufgabe es ist, die Wissenschaftsfreiheit zu schützen, das NW und seine Mitglieder angreifen. So hat sich Geraldine Rauch, Präsidentin der TU Berlin, zu der falschen Tatsachenbehauptung verstiegen, das NW stelle „massiv infrage“, dass „Forschung und Lehre nur frei sein [können], wenn Menschen, egal welcher Nationalität, Religion oder welchen Geschlechts, gleich und fair behandelt werden“ [https://table.media/research/standpunkt/die-aktivitaeten-des-netzwerks-wissenschaftsfreiheit-sollten-uns-mit-tiefster-sorge-erfuellen/] Irgendeinen Beleg für ihre unverschämte Feststellung hatte sie nicht. Das verwundert nicht, denn es gibt ja auch keinen. Das NW hat mit einem Offenen Brief reagiert und um Stellungnahme gebeten. Reagiert hat Rauch bisher nicht.
Aber Rauch ist nicht die einzige Persönlichkeit, die andere Positionen nicht aushält oder zumindest nicht den Mumm hat, sich für die Freiheit und gegen den linksakademischen Mainstream zu positionieren. Im oben zitierten Beitrag hatte Kristin Eichhorn den Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), Christoph Markschies, ermuntert, sich nicht nur mit „Bekenntnissen“, sondern mit „Taten“ gegen das NW zu positionieren, um sich nicht (hier zitiert sie zustimmend Jan-Martin Wiarda) „Diskurse der Undemokraten aufzwingen“ zu lassen. Der Hintergrund für ihre Intervention war, dass das NW in den Räumlichkeiten der BBAW eine Veranstaltung abhalten wollte (die dort dann auch stattfand). Markschies war dafür kritisiert worden. Statt öffentlich klarzustellen, dass selbstverständlich eine im Wissenschaftsbetrieb engagierte Gruppe wie das NW in den Räumen der BBAW tagen darf, machte er sich mit den woken Aktivisten gemein und schrieb in einem Tweet: „Hätte das Veranstaltungszentrum die Miet-Anfrage für die Veranstaltung abgelehnt, hätte es damit das Narrativ bestätigt, dass bestimmte Positionen hierzulande ‚gecancelt‘ werden.“ Diese Aussage impliziert, dass dieses Narrativ falsch ist; denn wenn das Narrativ wahr wäre – wenn es also wahr wäre, dass es akademische Cancel Culture in dem vom NW behaupteten, problematischen Ausmaß gibt ‒, dann hätte die BBAW auch keine Sorge haben müssen, dass man das Narrativ bestätigt – warum auch, dann wäre es ja eben zutreffend. Markschies Tweet impliziert vielmehr, dass das Narrativ falsch oder zumindest sehr zweifelhaft ist; denn der Wunsch, es nicht zu bestätigen, hat ja als Voraussetzung, dass es eben nicht zutrifft. Und genau so wurde der Tweet dann auch verstanden, sc. als „Distanzierung“ vom NW, z. B. auch hier: https://table.media/berlin/news-ber/netzwerk-wissenschaftsfreiheit-berliner-akademie-geht-auf-distanz/.
Die Replik von Markschies auf den Beitrag von Kristin Eichhorn zeigt, dass diese Deutung seines Tweets zutrifft. Denn er nennt darin https://www.jmwiarda.de/2024/02/05/an-ihren-taten-sollt-ihr-sie-erkennen/ die Cancel Culture eine „sogenannte“. Das heißt im Klartext: Die akademische Cancel Culture gibt es nicht oder jedenfalls nicht in einem bedenklichen Ausmaß. Markschies reiht sich also ein in den Chor derjenigen, die seit der Gründung des NW nicht müde werden, die Cancel Culture als bloß „anekdotisch“ abzutun. (Zur Kritik siehe z. B. https://netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/adrian-daubs-buch-cancel-culture-transfer-eine-kritik/). Aber nicht nur das. Statt das NW gegen die völlig maßlosen Angriffe Eichhorns zu verteidigen ‒ und damit übrigens ja auch Mitglieder des NW, die wie ich an Forschungsprojekten der BBAW beteiligt oder selbst Mitglieder der BBAW sind ‒, stimmt er zu. Im Fokus von Eichhorns Artikel steht das NW, und klarerweise auf das NW gemünzt, schreibt sie: „Um effektiv für den Erhalt unserer Demokratie einzustehen, muss man sich der schleichenden Normalisierung von sie unterwandernden Tendenzen im Alltagshandeln aktiv und ständig entgegenstellen. Das ist unbequem und etwas völlig anderes als der übliche wissenschaftliche Diskurs. Es braucht also ein verändertes Auftreten, um nicht von den Ereignissen überrannt zu werden.“ Und was schreibt Markschies zu genau dieser Attacke auf das NW: „Wer wollte da widersprechen? Längst wird nicht mehr nur gegen eine offene Gesellschaft gehetzt, vielmehr werden konkrete Schritte gegen sie vorbereitet, und man muss befürchten, dass solche Positionen in unserem Land parlamentarische Mehrheiten gewinnen können.“ Vor diesem Hintergrund muss man auch verstehen, wie Markschies Eichorns Rede von den „Diskursen der Undemokraten“ aufgreift. Er verweist auf „das Nachdenken über unterschiedliche Versuche der Diskurskontrolle im deutschen Wissenschaftssystem, über das an der Akademie“ geforscht werde. Und dann weiter: „Solche Forschung ist sicher kein Teil der „Diskurse der Undemokraten“, die das Narrativ einer Cancel Culture nutzen, um den Raum des Sagbaren gegen die offene Gesellschaft schleichend oder offen zu erweitern.“ Man braucht nur eins und eins zusammenzählen, um zu verstehen, was das bedeutet: Eichhorn rechnet den vom NW engagierten Diskurs über die Cancel Culture zu den „Diskursen der Undemokraten“. Markschies greift dieses Stichwort auf, um die in seinem Hause betriebene Forschung zur „Diskurskontrolle“ (vulgo: Cancel Culture) vom Diskurs bzw. „Narrativ“ des NW abzugrenzen – und dabei eben diesen NW-Diskurs genau wie Eichhorn zu den „Diskursen der Undemokraten“ zu rechnen. Oder verstehe ich hier etwas falsch, sehr geehrter Herr Präsident?
Ich setze mich, auch als Gründungsmitglied des NW, seit langem für die Wissenschaftsfreiheit linker wie rechter Denker ein. Ich habe etwa Marc Jongen, Thilo Sarrazin und Martin Wagener an meine Universität eingeladen; auf der anderen Seite habe ich das Vorgehen Viktor Orbáns gegen die Gender Studies und die CEU kritisiert https://netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/wissenschaftsfreiheit-in-deutschland-und-ungarn/ und die Gender Studies gegen Angriffe von rechts verteidigt https://www.youtube.com/watch?v=-NQ5t62ixTI. Ich bin kein „Undemokrat“. Und im NW ist mir auch keiner bekannt.