Wissenschaftsaktivismus und der Mißbrauch der Wissenschaftsfreiheit am Beispiel eines offenen Briefs

  • Beitrags-Autor:
Udo Kelter
15.06.2024

Wissenschaftsaktivismus und der Mißbrauch der Wissenschaftsfreiheit am Beispiel eines offenen Briefs

  1. Wissenschaftsaktivismus
  2. Der offene Brief Berliner Wissenschaftler
  3. Bericht des Magazins Panorama und Reaktionen darauf
  4. Fazit
  5. Quellen
  6. Anmerkungen

 

Unter Wissenschaftsaktivismus verstehe ich öffentliche Aktivitäten von Wissenschaftlern mit dem Hauptziel, die öffentliche Meinung einseitig in Richtung einer persönlichen Präferenz zu beeinflussen. Er besteht vor allem aus Debattenbeiträgen, die den herausgehobenen Status wissenschaftlicher Erkenntnisse beanspruchen, die aber nicht die entsprechende Qualität aufweisen. I.f. analysiere ich das Phänomen Wissenschaftsaktivismus am Beispiel des offenen Briefs Berliner Wissenschaftler, der sich für die Grundrechte propalästinensischer Studenten einsetzt.

Wissenschaftsaktivismus

Unser Grundrecht unterscheidet Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit. Diese Trennung unterstellt, daß wissenschaftliche Erkenntnisse einen sehr hohen Grad an Glaubwürdigkeit haben und mit viel Evidenz unterfüttert sind, die mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen wurde. Vereinfacht gesagt ist es daher sinnlos, wissenschaftliche Erkenntnisse mit reinen Meinungsäußerungen widerlegen zu wollen oder über deren Wahrheitsgehalt demokratisch abzustimmen. Wissenschaftliche Erkenntnisse genießen daher in öffentlichen Debatten einen privilegierten Status. Dieses Privileg überträgt sich auf Wissenschaftler, insb. Hochschullehrer und sonstige Personen, denen attestiert wird, wissenschaftlich zu forschen.

Sofern Wissenschaftler öffentlich als Wissenschaftler (und nicht explizit als einfacher Bürger) auftreten, beanspruchen ihre Aussagen immer automatisch, wissenschaftliche Erkenntnisse zu sein. Unter Wissenschaftsaktivismus verstehe ich öffentliche Aktivitäten von Wissenschaftlern, namentlich Debattenbeiträge, in denen in erheblichem Umfang subjektive Meinungen und Wertungen, Parteinahmen u.ä. enthalten sind, die den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis einseitig, unvollständig oder irreführend darstellen(1). Hauptziel dieser Debattenbeiträge ist, die öffentliche Meinung einseitig in Richtung einer persönlichen Präferenz oder Ideologie zu beeinflussen. Ein besonders starkes Indiz für Wissenschaftsaktivismus sind fachfremde Äußerungen.

Wissenschaftsaktivismus gemäß der vorstehenden Definition mißbraucht also den privilegierten Status von Wissenschaftlern, um subjektive Interessen durchzusetzen, und täuscht die Öffentlichkeit über den Stand der Wissenschaft.

Wissenschaftler haben natürlich als einfache Bürger das Recht, beliebige Meinungen, darunter falsche und unbegründete, zu äußern. Diese Meinungsäußerungen werden aber nur durch die Meinungsfreiheit geschützt, nicht durch die mit mehr Schutzanspruch verbundene Wissenschaftsfreiheit.

Der offene Brief Berliner Wissenschaftler

Seit Anfang Mai erhitzt ein offener Brief Berliner Wissenschaftler, der sich für die Grundrechte propalästinensischer Studenten einsetzt, die Gemüter und hat zu zahlreichen Reaktionen in der Presse und den sozialen Medien geführt. Dieser offene Brief ist m.E. ein Musterbeispiel für Wissenschaftsaktivismus und dessen negative Folgen. Zunächst stelle ich den Brief und seinen Kontext vor, anschließend die bisherigen Folgen.

Die polizeiliche Räumung der FU Berlin

Die Affäre beginnt mit der polizeiliche Räumung einer propalästinensischen Demonstration an der FU Berlin. Laut diversen Berichten (u.a. ZDF, 2024-05-04, ZDF, 2024-05-07) kam es während dieser Demonstration zu Straftaten bzw. zumindest zu einem Anfangsverdacht, daß Straftaten vorliegen, insb. Volksverhetzung und Hausfriedensbruch. Deswegen seien laut Aussagen der Polizei einzelne Personen vorübergehend festgenommen worden. Diese Räumung stieß naheliegenderweise auf Kritik bei den Betroffenen und deren Sympathisanten.

Der offene Brief

Scharfe Kritik an dem Polizeieinsatz übte insb. ein offener Brief von anfangs rund 100 Dozenten verschiedener Berliner Hochschulen (Kopie vom 7.5.2024), den inzwischen über 1000 Personen (aktuelle Version) nicht nur von Berliner Hochschulen mitgezeichnet haben. Wer Brief nicht kennt, sollte ihn ggf. selber lesen, bevor ich meine Rezeption darstelle.

Adressaten der Belehrungen sind i.w. die Uni-Leitung und die Polizei (es ist nicht restlos klar, wer den Polizeieinsatz angeordnet hat), denen offenbar unterstellt wird, die Grundrechte Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Grundrecht auf friedlichen Protest nicht zu kennen oder zumindest nicht ausreichend zu berücksichtigen bzw. verletzt zu haben, indem man die Demonstranten „Polizeigewalt ausgeliefert“ hat.

Inhaltlich positioniert sich der Brief mit einem einleitenden Nebensatz „Unabhängig davon, ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind, …“ als neutraler Beobachter, der sich nicht zum Thema der Proteste einläßt, sondern nur die Grundrechtssituation beleuchtet.

Diese neutrale Position wird aber schon wenige Zeilen später aufgegeben, indem u.a. auf die „humanitäre Krise in Gaza“ hingewiesen wird, die die Forderungen der Demonstranten und „die gewählte Aktionsform“ nachvollziehbar machen sollten. Den Autoren war offensichtlich bekannt, daß zu den „gewählten Aktionsformen“ Volksverhetzung und Hausfriedensbruch gehörten, die strafrechtlich verfolgt werden, denn gegen Ende wird gefordert, „von weiterer strafrechtlicher Verfolgung abzusehen“.

Große Teile des Briefs argumentieren rechtsphilosophisch über die Grundrechtssituation. Hier werden völlig einseitig die Interessen der Demonstranten vertreten:

  1. Der Brief argumentiert, Protest, der explizit nicht auf Dialog ausgerichtet ist – womit offenbar auf das Verhalten der Demonstranten Bezug genommen wird -, sei geschützt, und fordert paradoxerweise gleichzeitig von der Uni-Leitung, „solange wie nur möglich eine dialogische und gewaltfreie Lösung anzustreben.“ Letztlich werden hier unterschiedliche Maßstäbe an den Diskussionsstil der Parteien angelegt. Einer Seite wird Obstruktion erlaubt, die die andere Seite hinnehmen müsse.
  2. Das Grundrecht, friedlich zu protestieren, wird ausführlich behandelt, der Polizeieinsatz wird als Verletzung dieses Grundrechts hingestellt. Vermutlich haben etliche Demonstranten zeitweise friedlich demonstriert, offensichtlich haben aber mehrere Dutzend Demonstranten nicht friedlich demonstriert, sondern Straftaten begangen. Motiviert war der Polizeieinsatz offensichtlich durch die zweite Gruppe. Ihn implizit als motiviert durch die erste Gruppe hinzustellen, ist absurd.
  3. Die Argumentation des offenen Briefs thematisiert ausschließlich die Grundrechte der propalästinensischen Demonstranten.
    Nicht erwähnt werden die Grundrechte anderer in die Vorgänge involvierter Personen:

    • die Grundrechte von Wissenschaftlern der Universität(2),
    • die Grundrechte jüdischer Studenten und Wissenschaftler, angefangen bei Art. 2 GG, die von den Vorfällen offensichtlich massiv infrage gestellt werden.

Die Erörterungen von Grundrechtssituation ist somit selbst dann, wenn man die Autoren als juristische Laien einstuft, hochgradig defizitär und einseitig. Dies kann plausibel nur als eine einseitige inhaltliche Parteinahme zugunsten der Demonstranten und deren politischer Position interpretiert werden, zumal der offene Brief als Beitrag zu einer politischen Debatte plaziert wurde und diese Debatte einen Interpretationsrahmen bildet.

Öffentliche Rezeption des offenen Briefs

Angesichts der krassen argumentativen Defizite sind die zahlreichen negativen Einschätzungen des offenen Briefs völlig plausibel.

Die völlig einseitige Vertretung der inhaltlichen Standpunkte und Grundrechte der Demonstranten ist eine zulässige Meinungsäußerung und fällt unter die Meinungsfreiheit.

Die komplette Ausblendung der Grundrechte anderer Grundrechtsträger kann plausibel als Verneinung dieser Grundrechte interpretiert werden, zumal sich die Unterzeichner als Intellektuelle positionieren, denen diese Grundrechte bekannt sein sollten. Diese Interpretation und darauf basierende scharfe Kritik sind keineswegs fahrlässig. Politischen Gegnern Grundrechte abzuerkennen ist grenzwertig, insb. wenn man versucht, den Eindruck zu erwecken, ein neutraler Beobachter der Rechtslage zu sein.

Vorgeworfen wird dem offenen Brief ferner, rechtsfreie Räume für die propalästinensischen Demonstranten zu fordern. Belegen kann man diesen Vorwurf mit der Denunziation des Polizeieinsatzes als „Polizeigewalt“ und der Forderung, von der strafrechtlicher Verfolgung von Straftaten der Demonstranten abzusehen. Die Jüdische Allgemeine stellte sogar die rhetorische Frage: „Stehen die Dozenten wirklich noch auf dem Boden des Grundgesetzes?“(3) „Boden des Grundgesetzes“ ist kein klar definierter Begriff. Wenn man den Rechtsstaat und die Grundrechte aller Bürger als diesen Boden ansieht, kann man zu Recht bezweifeln, daß die Unterzeichner noch auf diesem Boden stehen.

Interpretation der Kritik am offenen Brief als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit

Die scharfe Kritik an dem offenen Brief insb. durch Politiker wurde wiederholt als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der Unterzeichner bezeichnet. Diese Einschätzung ist falsch, wenn überhaupt, dann liegt hier allenfalls eine Verletzung der Meinungsfreiheit vor.

Dies führt zur Frage, zu welcher Textsorte der offene Brief gehört. Schon die Selbstbezeichnung als offener Brief deutet klar darauf hin, daß es sich um eine Meinungsäußerung handelt.

Die plakative Herausstellung der Unterzeichner als „Lehrende an Berliner Universitäten“ kann dennoch als Anspruch verstanden werden, daß der Brief zu wesentlichen Anteilen wissenschaftliche Erkenntnisse präsentiert. Als Bestätigung dieses Anspruchs kann man werten, daß große Teile des Briefs abstrakt über Grundrechte der Protestierer und die Pflichten der Uni-Leitung philosophieren. Die intellektuelle Qualität dieser juristischen Erörterungen ist aber desaströs, s.o. Es ist auch nicht erkennbar, daß Juristen unter den Verfassern sind und daß die Vorfälle qualifiziert juristisch analysiert und beurteilt werden. Insgesamt kann also der offene Brief und die darin geforderte rechtliche Bevorzugung propalästinensischer Demonstranten nicht als ernstzunehmender Beitrag zu einer wissenschaftlichen Debatte gewertet werden.

Der offene Brief ist also keine wissenschaftliche Äußerung, sondern eine (politisch/ideologische) Meinungsäußerung. Der offene Brief fällt somit nicht unter die Wissenschaftsfreiheit, sondern unter die Meinungsfreiheit. Völlig unstrittig ist natürlich, daß jeder, auch jeder Wissenschaftler, sich im Rahmen der Meinungsfreiheit fachfremd und aktivistisch zu jeglichen politischen Themen äußern darf.

Die zum Teil scharfe Kritik an dem offenen Brief und seinen Autoren ist damit kein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit der Autoren, sondern allenfalls ein Angriff auf deren Meinungsfreiheit.

Die Kritik an dem offenen Brief fällt selber wieder in den weiten Rahmen der Meinungsfreiheit, insb. auch die scharfe Kritik, die Autoren stünden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Bei einer wissenschaftlichen Publikation und im Rahmen wissenschaftlicher Debatten ist eine solche ad-hominem Kritik grundsätzlich unzulässig, weil sie die Person und nicht den Inhalt einer wissenschaftlichen Hypothese angreift. In öffentlichen Debatten sind dagegen Mutmaßungen über die Motivationen und die moralischen Maßstäbe von Meinungsgegnern, sofern halbwegs plausibel und im legalen Rahmen, zulässig und üblich.

Bericht des Magazins Panorama und Reaktionen darauf

Die Publizität des Vorfalls wurde noch einmal gesteigert durch einen Bericht des ARD-Magazins Panorama am 11.06.2024 über geleakte Kommunikationen per e-mail im BMBF. Diesen Kommunikationen zufolge sollte der offene Brief daraufhin untersucht werden, ob er (a) strafrechtlich relevante Aussagen enthält – ein absurder Gedanke, der umgehend ministeriumsintern zurückgewiesen wurde – und (b) ob die Unterzeichner damit gegen förderrechtliche Bestimmungen verstoßen und deswegen ggf. Förderungen widerrufen werden können.

Dieser Bericht führte zu erheblichem medialen Aufruhr, darunter Dutzende X-Posts und Presseartikeln, diese ministerielle Untersuchung, vor allem (b), sei eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit der Unterzeichner und die Ministerin müsse deswegen zurücktreten. Begründet wird die These von der Verletzung der Wissenschaftsfreiheit meist nicht. Diese Vorwürfe zeigen m.E. nur, daß der Unterschied zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit nicht verstanden wird.

Vielfach wird argumentiert, die gewünschten Untersuchungen seien ohnehin erforderlich und Standardprozedur. Unter dieser Annahme liegt keine Bedrohung vor und weitere Diskussionen erübrigen sich. In den folgenden Erörterungen unterstelle ich die gegenteilige Annahme.

Hat das BMBF die Wissenschaftsfreiheit verletzt?

Ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit liegt grundsätzlich nur dann vor, wenn wissenschaftliche Forschung und/oder Lehre, also die Gewinnung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, ver- oder behindert oder nachträglich sanktioniert werden soll, also eine entsprechende Absicht vorhanden ist. Notwendig ist also i.d.R. ein inhaltlicher Bezug auf eine konkrete wissenschaftliche Fragestellung, Hypothese oder Erkenntnis(4). Ein fahrlässig verursachter Wasserrohrbruch, ein Streik, der Diebstahl aller Laptops einer Arbeitsgruppe oder ein vergleichbares Ereignis, das die Forschung und Lehre erheblich behindert, ist zwar ggf. eine Fehlleistung oder sogar eine Straftat, aber kein Angriff Außendstehender auf die Wissenschaftsfreiheit der Betroffenen, weil die inhaltliche Motivation fehlt. Gleiches gilt für die Entlassung eines Hochschullehrers, der Projektmittel unterschlagen hat, Mitarbeiter gemobbt hat oder seine Lehrverpflichtungen nicht erfüllt.

Bei den Untersuchungsaufträgen, auch bei (b), ist ein solcher Bezug nicht vorhanden. Es sollte flächendeckend und damit themenunabhängig nach Projekten gesucht werden, deren Geförderte den offenen Brief unterzeichnet haben und die sich ggf. strafbar gemacht haben. Sanktioniert werden sollte ggf. durch den Widerruf von Porjektmitteln keine wissenschaftliche Hypothese, sondern ausschließlich die private Meinung bzw. politische Orientierung der Geförderten. Wenn man den Verdacht, daß strafbare Handlungen vorlagen. als unsinnig ausklammert, liegt hier also eine illegale Absicht vor, die Meinungsfreiheit zu verletzen.

Man kann die Untersuchungsaufträge eventuell auch als Angriff auf die Hypothesen und Aussagen des offenen Briefs ansehen. Wie oben schon ausführlich dargestellt ist der offene Brief aber keine wissenschaftliche Aussage, sondern eine Meinungsäußerung. Meinungsäußerungen können grundsätzlich nicht den Schutz der Wissenschaftsfreiheit in Anspruch nehmen.

Verstoßen wird hier, wenn überhaupt, gegen die Meinungsfreiheit. Das ist, sofern zutreffend, genauso zu verurteilen wie ein Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit, aber eben etwas anderes.
Insb. sind die Kriterien, wann ein Verstoß vorliegt, und die resultierenden Schutzansprüche andere. Ganz konkret betrifft dies die Frage, ob sich das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit in (den massenhaft vorkommenden) Fällen engagieren sollte, in denen „nur“ die Meinungsfreiheit mehr oder weniger bedroht wird: natürlich nicht, noch nicht einmal bei den eigenen Mitgliedern.

Klar ist, daß auch die Meinungsfreiheit Schranken unterliegt, deren Übertretung sanktioniert wird, das gilt auch für Wissenschaftler. Insofern sind entsprechende Überprüfungen keine Bedrohungen.

Neben den Unterzeichnern kann man potentielle spätere Antragsteller von BMBF-geförderten Projekten als betroffene Grundrechtsträger ansehen. Wegen des notwendigen inhaltlichen Bezugs betrifft dies nur Projekte, die thematisch verwandt mit dem offenen Brief sind und die in der Antragstellung einen ähnlichen ideologischen Standpunkt wie der offene Brief erkennen lassen.

Dieser Verdacht unterscheidet nicht klar genug zwischen der politischen Positionierung von Antragstellern und einer politischen Schlagseite eines „aktivistischen“ Projekts.
Ein „aktivistisches“ Projekt, das i.w. darauf zielt, einseitig einen ideologischen Standpunkt zu verstärken, dürfte kaum die Kriterien für Wissenschaftlichkeit erfüllen und sollte so oder so nicht gefördert werden. Umgekehrt darf ein Projekt, dessen Antrag die Qualitätskriterien erfüllt, nicht wegen privater Eigenschaften der Antragsteller, die nicht mit deren professioneller Kompetenz zusammenhängen, abgelehnt werden.

Daß der vermutete Einschüchterungseffekt künftiger Antragsteller geplant war, ist wenig plausibel, weil er erst durch den Bruch der Vertraulichkeit der internen Kommunikation entstand. Die Annahme, diese Indiskretion sei geplant gewesen, ist reine Spekulation.

Bei beiden Gruppen potentiell betroffener Grundrechtsträger kann ich im Verhalten des BMBF keine Absicht erkennen, konkrete wissenschaftliche Forschung und/oder Lehre zu be- oder verhindern. Damit liegt auch kein Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit, sondern allenfalls gegen die Meinungsfreiheit.

Fazit

Der offene Brief Berliner Wissenschaftler ist ein Musterbeispiel für Wissenschaftsaktivismus: Schon der Titel reklamiert den privilegierten Status von wissenschaftlichen Beiträgen zu politischen Debatten. Die inhaltliche Qualität des Briefs ist meilenweit von einem wissenschaftlichen Beitrag entfernt. Der Vertrauensbonus, der Wissenschaftlern in öffentlichen Debatten regelmäßig gewährt wird, wird hier – offensichtlich mit Absicht – mißbraucht. Dieser Mißbrauch schädigt die Wissenschaft als ganze, weil Vertrauen verspielt wird. Direkte Folge sind die aktuell massenhaft zu beobachtenden Vorwürfe, Antisemitismus werde mit der Wissenschaftsfreiheit gerechtfertigt – nein, definitiv nicht!

Wissenschaftsaktivismus kann den Schutz der Wissenschaftsfreiheit nicht für sich reklamieren, weil er dessen Bedingungen nicht erfüllt. Insofern halte ich alle Vorwürfe an die Politik oder das BMBF, die Wissenschaftsfreiheit der Unterzeichner verletzt zu haben, für falsch, man kann dies als Kategorienfehler bezeichnen.

Wissenschaftsaktivismus fällt regelmäßig unter die Meinungsfreiheit, ist also grundrechtlich „nur“ durch die Meinungsfreiheit geschützt und kann keine Privilegien gegenüber Meinungsäußerungen von Nichtwissenschaftlern für sich reklamieren. Meinungsfreiheit ist indes nicht grenzenlos und erlaubt wesentlich schärfere Gegenmeinungen anderer Debattenteilnehmer als in wissenschaftlichen Debatten zulässig. Man kann unter einigen Annahmen plausibel argumentieren, daß die Meinungsfreiheit der Unterzeichner verletzt wurde, was entsprechende Konsequenzen haben sollte, wenn die Annahmen zutreffen. Das Framing, hier läge ein Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit vor, ist so oder so strikt abzulehnen.

Quellen

  1. Urteil des Ersten Senats vom 29. Mai 1973. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 35, 79 CII, 29.05.1973.
  2. Philipp Peyman Engel: Die Schande von Berlin. Jüdische Allgemeine, 15.05.2024.
  3. John Goetz, Manuel Biallas: Bildungsministerium wollte Fördermittel streichen. Panorama, 11.06.2024.
  4. Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, Pressemitteilung, 13.05.2024.
  5. Ermittlungen nach Protesten an Berliner Uni. ZDF, 04.05.2024.
  6. Polizei räumt Protestcamp an Berliner Uni. ZDF, 07.05.2024.
  7. Empörung über Unterstützer-Brief von Dozenten. ZDF, 09.05.2024.

 

Anmerkungen

(1) Damit unterscheidet sich Wissenschaftsaktivismus wesentlich von der third mission, der Öffentlichkeit den Stand der Wissenschaft allgemeinverständlich zu vermitteln. Unbestritten ist ferner, daß man in den politischen Disziplinen oft schlecht zwischen Meinung und wissenschaftlicher Position trennen kann. Dann muß diese Einschränkung der Gültigkeit von Aussagen aber auch hinreichend deutlich kommuniziert werden.

(2) Wie z.B. im legendären Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29.05.1973 formuliert:

(C.V.2.) Der Gesetzgeber muß daher gerade bei der Gruppe der Hochschullehrer darauf achten, daß sie unter Berücksichtigung der Aufgaben und Zwecke der Universität so frei wie möglich ihren wissenschaftlichen Auftrag erfüllen können. Er muß durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellen, daß Störungen und Behinderungen ihrer freien wissenschaftlichen Tätigkeit durch Einwirkungen anderer Gruppen soweit wie möglich ausgeschlossen werden.

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hat dementsprechend in einer Stellungnahme Formen des Protests, die die Wissenschafts- und Lehrfreiheit sowie das Recht aller Studierenden auf ordnungsgemäßes Studium einschränken, deutlich kritisiert.

(3) Hilfreich wäre gewesen, auch Elemente einer Antwort präsentiert zu haben, insb. ob hier mehr als die Verneinung der Grundrechte von Juden gemeint ist.
(4) Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit können auch ganze Fachgebiete betreffen, also eine Vielzahl von Themengebieten. Dieser Fall ist hier nicht relevant.